Die Straße - Roman
Central zu verschwinden. Ein paar Tage später sitzt der Gefreite Tim Zaenglein dann zum ersten Mal bei uns im Wohnzimmer.
E s war immer ein armseliges Bild, wenn ein GI aus den Ray Barracks bei uns im Wohnzimmer saß. Neben meiner Schwester und dem GI war auch immer mein Vater anwesend. Eisern saß er Abend um Abend im Wohnzimmer, wenn meine Schwester sich mit einer ihrer neuen Bekanntschaften aus der Kaserne traf. In diesem trostlosen Wohnzimmer auf der trostlosen Couch, die auf dem trostlos gelbgrauen Stoffteppich stand, saßen sie herum, bei heruntergelassenen Rolläden, das Zimmerlicht war eingeschaltet, an der Wand (Strukturtapete) wurde von diesem Licht ein pseudoägyptisches Bildwerk angestrahlt, das auf den betreffenden GI wohl eine ernüchternde Wirkung gehabt haben muß, kaum daß er es sah, irgendein Vorderer-Orient-Machwerk aus der Werkstatt eines deutschen Kunsthandwerkers aus irgendeiner Stadt der näheren Umgebung, Büdingen, Wetzlar oder Groß-Krotzenburg, inspiriert vom Grabmahl des Tutanchamun. So saßen sie auf der Couch, mühsam eine Unterhaltung in Gang bringend, die dann zumeist von meinem Vater bestritten wurde, obgleich meine Schwester inzwischen fließend amerikanisches Englisch sprach undmein Vater nur sein Besatzungszonenenglisch von anno dazumal. Irgendwann schaltete mein Vater den Fernseher ein, und dann mußten alle drei fernsehen, obgleich sicherlich keiner der drei Beteiligten in diesem Augenblick fernsehen wollte. Ich sah es manchmal von der Tür aus. Manchmal saß auch meine Mutter dabei.
Im Grunde besagte die Tatsache, daß mein Vater da herumsaß, bis ihm die Augen zufielen, daß er jederzeit davon ausging, die beiden anderen würden, kaum wäre er selbst nicht anwesend, sofort übereinander herfallen, oder zumindest der Amerikaner über meine Schwester, hier im Wohnzimmer. Das galt es auszusitzen. Es war wie ein Sitzsport. Es galt, länger zu sitzen als der andere. Jeden Abend mußte mein Vater als Sitzsieger wieder aus dem Wohnzimmer herauskommen, nachdem er dem Amerikaner eine Niederlage zugefügt hatte. Die amerikanische Besatzungsmacht, im deutschen Wohnzimmer ausgesessen. Mein Vater hatte sich damit abgefunden, daß da vielleicht der zukünftige Schwiegersohn saß. Wenn ich meine Schwester sah, tat sie mir in diesen Momenten immer leid, ebenso wie der GI, und mein Vater tat mir auch leid, denn eigentlich war er ja von allen am meisten getrieben, von seinen Aufsichtspflichten und seinen Vorstellungen, und dabei fielen ihm die Augen schon lange vor den Tagesthemen zu.
Dem GI wurden übrigens auch Getränke angeboten, man holte eine Flasche Rheinwein aus dem Keller, stellte Fischlis oder Salzstangen auf den Fernsehertisch, und der arme GI saß da und sagte sich, das ist jetzt also Deutschland. Ich fand es natürlich merkwürdig, daß mein Vater damals auf solche Weise die allabendliche Aufsicht über die GIs und meine Schwester führte. Es fand alles wie im Zoo statt, mit meinem Vater als Zoowärter.
Von dem Augenblick an, da ich wußte, wie Menschen durch Beischlaf entstehen, konnte ich den Gedanken, daß meine Eltern Kinder gezeugt hatten, nie mehr mit ihnen und ihrer Art, über die Dinge und die Welt zu reden, in Einklang bringen. Ich war nun vierzehn und hielt es für geradezu unglaubwürdig, daß meine Eltern tatsächlich Kinder gezeugt haben sollten, uns, darunter auch mich. Es paßte vor allem nicht zu ihren Reden. Ich hatte es noch nie so klar vor mir gesehen wie jetzt, da ich die andere Welt komplett verstanden und endlich begriffen hatte, daß es gar keine andere war, sondern, wie gesagt, für alle die eigentliche und omnipräsent. In ihrer Sprache kam das, was den Beischlaf und alles damit Zusammenhängende betrifft – also der innerste Kern dieser ganzen Familie und der alleinige Grund meiner Existenz –, nie vor. Ich begriff: Es war so, als sei genau das, durch das alles entstanden war, peinlich genau aus dieser Welt ausgeschlossen. Denndas stand hinter dem sprachlichen Ausschluß: der Ausschluß aus der Welt. Was nicht erwähnt wurde, sollte möglichst irgendwie gar nicht existieren. Sie taten so, als gäbe es all das eigentlich nicht. Es sollte nur als Geheimwissen existieren, um dessen Existenz nur die wissen, die es verschweigen.
Aber es gab nicht nur keine Sprache dafür, sondern es gab sogar so etwas wie eine ausgesprochene Nichtsprache. Oder besser gesagt: Weil das unausgesprochene Thema so mächtig in ihnen war, usurpierte es ganz andere
Weitere Kostenlose Bücher