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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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paar Tage war sie in allgemeiner Aufregung. Damit war das große Los gezogen, denn einen wirklichen und realen Amerikaner bei sich wohnen hatte niemand von ihren Freundinnen in Friedberg in der Wetterau. Zwar hieß es, der Amerikaner würde nur ein paar Tage bei uns bleiben, nur übergangsweise, vielleicht auch ein oder zwei Wochen, aber mehr nicht, bis ein neuer Aufenthaltsort und eine neue Gastfamilie für ihn gefunden seien, aber allein schon die Aussicht auf wenige Tage war für meine Schwester wie die Erwartung, einen neuen Kontinent zu betreten. Endlich jemand! Sie würde über alles mit ihm reden können. Über Amerika würde sie mit ihm reden können. Und er würde natürlich von Amerika erzählen, er würde von seinem Schülerleben in Amerika erzählen, und sie würde sichdann, in ihrer Wetterauer Schule sitzend, noch besser vorstellen können, wie es wäre, in einer amerikanischen Schule zu sitzen, in einer High School, mit High-School-Festen und High-School-Lehrern und High-School-Pausenhofgesprächen und High-School-Freundinnen. Vielleicht war er aus Kalifornien. Dann könnte er sogar ein Surfer sein. Es war eine Universalerwartung, die sich ihrer in diesen Tagen bemächtigte, als der Gast angekündigt, aber noch nicht erschienen war. Bis dahin verweilte unser Gast noch in Reichelsheim oder Wölfersheim oder irgendwo dort in der Nähe, in einem kleinen, muffigen, noch nicht aufgearbeiteten, abgewetzten Fachwerkhaus, einem jener Häuser, wie es sie damals, vor den bald überall anstehenden Ortskernsanierungen, noch gab. Dort hatte man ihn bei seinen ersten Gasteltern untergebracht.
    Vor allem würde sie unseren Gast unter ihre Fittiche nehmen und ihm alles zeigen. Sie würde ihm zeigen, was bei uns anders wäre als bei ihm zu Hause, und dadurch würde sie ihm unter Beweis stellen, wie gut sie sich eigentlich schon bei ihm zu Hause auskenne, auch ohne schon drüben, in den Staaten, gewesen zu sein. (Man sagte in ihrem Kreis immer die Staaten , stets ohne nähere Bezeichnung.) Die Aussicht, nun den ganzen Tag in der Gesellschaft eines US-Amerikaners zu sein, verhieß für sie ein Glück, wie es bis dato eigentlich nicht denkbar gewesenwar. Möglich geworden war dieses Glück infolge irgendeines internationalen Deutschland-Gast-Programms, von dem wir vorher nie etwas gehört hatten.
    Mein Vater hatte sich bei einem Kreistagskollegen näher über dieses Programm informiert. Nicht nur Amerikaner, sondern auch Finnen, Schweden, Argentinier, Engländer und andere waren zuerst an eine zentrale Stelle in Deutschland gebracht und von dort auf die verschiedenen Gastfamilien quer über das Gebiet der Bundesrepublik verteilt worden. Unser Gast war einem Gastvater in der Wetterau zugeteilt worden.
    John Boardman, so hieß er, war seit drei Wochen in Europa. Mein Vater holte ihn bei seinem vorigen Gastvater ab.
    Was vor allem an John Boardman ungewöhnlich war, war sein Äußeres. So etwas hatten sie noch nicht gesehen im Kreis der Freundinnen, und sie hätten es auch in keiner Weise erwartet oder für möglich gehalten. Ich kann mir den Gesichtsausdruck meiner Schwester vorstellen, als sie John zum ersten Mal erblickte.
    Als ich an jenem Tag irgendwann nachmittags nach Hause kam, hörte ich zwar jemanden in der Küche, vermutlich unseren Gast, betrat die Küche aber nicht und kümmerte mich nicht weiter darum. Zunächst bekam ich von John nichts außer demmit, was mir meine Schwester noch am selben Abend erzählte. Wir trafen uns spät im Hausflur, und sie sagte, daß der amerikanische Besuch jetzt also erschienen sei. Sie schilderte gewisse Details, wo er herkomme (er kam nicht aus Kalifornien, sondern aus Colorado), welche Sprachen er spreche, aber es war zu bemerken, daß bei ihr keine rechte Begeisterung aufgekommen war. Irgend etwas mußte sie enttäuscht haben. Ich wußte nicht, was vorgefallen war, ich merkte nur, daß etwas nicht stimmte.
    Es handelte sich bei John Boardman um ein Riesenbaby. Das war das Wort, das schon am ersten Tag allen vor Augen geschrieben stand, die ihn gesehen hatten, auch wenn sie es noch nicht aussprachen. Das erste, was an ihm auffiel und ihn jäh diskreditierte, war die Tatsache, daß er unglaublich dick war. Er war geradezu fett. Wir hatten niemals einen dickeren Menschen bei uns im Haus gehabt, vielleicht hatte ich in ganz Friedberg noch nie einen so dicken Menschen gesehen, dabei war John Boardman nicht einmal älter als meine Schwester. Alles schwabbelte an ihm. Die Arme wirkten

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