Die stumme Bruderschaft
erhob sich stolz auf einer felsigen Klippe am Meeresrand. Von hier aus überblickte man ein weites Gebiet, eine der letzten christlichen Bastionen im Heiligen Land.
Robert de Saint-Remy rieb sich die Augen, als hätte er eine Fata Morgana vor sich. In wenigen Minuten sähen sie sich von Rittern umgeben, die sie bestimmt schon seit Stunden beobachteten.
Ali, sein Knappe, hatte sich wieder einmal als erfahrener Führer und treuer Freund erwiesen. Er verdankte ihm sein Leben, er hatte ihn gerettet, als sie von einem Trupp Ajjubiden überfallen wurden. Er hatte unermüdlich an seiner Seite gekämpft und nicht zugelassen, dass eine auf sein Herz gerichtete Lanze ihr Ziel erreichte. Er hatte sich dazwischengeworfen und den Stoß des tödlichen Eisens abgefangen. Keiner der Ajjubiden hatte den Angriff überlebt. Ali hatte mehrere Tage mit dem Tod gerungen, und Robert de Saint-Remy war nicht von seiner Seite gewichen.
Saids Arznei hatte ihn ins Leben zurückgeholt. Said hatte von den Ärzten der Templer wie auch von muselmanischen Ärzten gelernt. Er hatte die Lanze aus Alis Seite gezogen, die Wunde sorgfältig gesäubert und sie mit einem Pflaster aus Kräutern bedeckt, die er immer bei sich trug, und dann hatte er ihm einen übel riechenden Trunk verabreicht, der ihn in wohltuenden Schlaf versetzte.
Wenn Robert Said fragte, ob Ali überleben werde, hatte er immer die gleiche Antwort: »Das weiß nur Allah.« Nach sieben Tagen war Ali aus dem todesähnlichen Schlaf erwacht. Ein Lungenflügel schmerzte, und das Atmen war ihm eine Qual, aber Said sagte, er werde überleben, und alle waren wieder guten Mutes.
Ali hatte noch einmal sieben Tage gebraucht, um aufzustehen, und weitere sieben, um wieder auf seinem zahmen Hengst reiten zu können. Kurz vor dem Tor der Festung wurden sie plötzlich von einer Staubwolke eingehüllt. Ein Dutzend Tempelritter zu Pferd standen vor ihnen, und der Kommandant befahl ihnen anzuhalten.
Als sie sich zu erkennen gaben, wurden sie bis zur Festung eskortiert und sofort zum Großmeister gebracht.
Renaud de Vichiers empfing sie herzlich. Trotz ihrer Müdigkeit berichteten sie ihm ausführlich von der Reise und übergaben die Botschaft und die Dokumente, die André de Saint-Remy ihnen mitgegeben hatte – vor allem aber die Schatulle mit dem Mandylion.
Der Großmeister sagte, sie sollten sich zur Ruhe begeben, und gab Anweisung, Ali von seinen Diensten zu entbinden, bis er vollständig genesen sei.
Als er allein war, holte Renaud de Vichiers mit zitternder Hand die Schatulle mit dem Mandylion hervor. Er war wie betäubt, gleich würde er das Antlitz Christi erblicken.
Er breitete das Leintuch aus und betete auf Knien, um Gott zu danken, dass er sein wahres Antlitz sehen durfte.
Am Abend des zweiten Tages nach der Ankunft von Robert de Saint-Remy und François de Charney rief der Großmeister die Ritter im Kapitelsaal zusammen. Dort war auf einem langen Tisch das Mandylion ausgebreitet. Einer nach dem anderen gingen sie an dem Grabtuch vorbei, und einige der hartgesottenen Ritter konnten die Tränen nicht zurückhalten. Nach dem Gebet erklärte Renaud de Vichiers den Ordensrittern, das heilige Tuch werde, geschützt vor neugierigen Blicken, in einer Vitrine aufbewahrt werden. Es war der wertvollste Schatz der Templer, und sie würden ihn mit ihrem Leben verteidigen. Danach mussten sie alle schwören: Keiner von ihnen würde jemals verraten, wo das Mandylion war. Dass sie es besaßen, war eines der großen Geheimnisse des Templerordens.
34
Marco hatte sie zum Essen eingeladen. Minerva, Pietro und Antonino waren am Morgen mit der ersten Maschine aus Rom gekommen.
Pietro zeigte sich Sofia gegenüber abweisend, fast feindselig. Das war ihr unangenehm, aber sie hatte keine andere Wahl: Solange sie beim Dezernat für Kunstdelikte war, musste sie mit Pietro zusammenarbeiten. Das bestärkte ihren Entschluss, die Abteilung zu verlassen, sobald der Fall abgeschlossen war.
Sie waren gerade mit dem Mittagessen fertig, als Sofias Handy klingelte.
»Ja …?«
Als sie die Stimme am anderen Ende erkannte, wurde sie rot. Und als sie aufstand und den Gastraum verließ, erregte das erst recht die Aufmerksamkeit ihrer Kollegen. Als sie zurückkehrte, fragte niemand nach, aber es war offenkundig, dass Pietro geladen war.
»Marco, es war D’Alaqua, er hat mich für morgen mit Doktor Bolard und dem wissenschaftlichen Komitee zum Essen eingeladen; eine Art Abschiedsessen.«
»Du hast ja gesagt,
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