Die stumme Bruderschaft
Nacht geschah.
Die Mamelucken kehrten in ihr Lager zurück, aus dem der Duft von gewürztem Lamm und Lieder kamen, die von Sieg sprachen. Die Ritter trafen sich erschöpft im Kapitelsaal. Sie mussten jetzt sofort einen neuen Großmeister wählen, sie konnten nicht warten. Sie waren müde, es war ihnen gleichgültig, wer ihr Führer wurde, wenn sie morgen, vielleicht übermorgen sterben würden. Aber sie beteten und meditierten und baten Gott, ihnen die Erleuchtung zu schicken. Thibaut de Gaudin wurde der Nachfolger des tapferen Guy de Beaujeau.
Noch vor Sonnenaufgang ließ Thibaut de Gaudin alle in die Messe gehen. Es war der 28. Mai 1291.
Die Schwerter schlugen ohne Unterlass gegeneinander, und die Pfeile suchten blind ihre Opfer. Vor Sonnenuntergang sollte über Acre das Banner der Feinde wehen. Inschallah! Die Festung glich einem Friedhof. Kaum ein Ritter war noch am Leben.
38
Sie wachte schreiend auf, als wäre sie mitten in der Schlacht gewesen. Aber sie war im Herzen von London, in einem Zimmer im Hotel Dorchester. Ana Jiménez spürte, wie ihr der Schweiß über den Rücken rann. Ihre Schläfen pochten, ihr Herz schlug unregelmäßig.
Sie stand auf und ging ins Bad. Der Schreck saß ihr in den Gliedern. Das Haar klebte an ihrem Kopf, und das Nachthemd war schweißnass. Sie zog es aus und ging unter die Dusche. Es war das zweite Mal, dass sie einen Alptraum mit einer Schlacht hatte. Wenn sie an Seelenwanderung geglaubt hätte, hätte sie geschworen, dass sie in Saint Jean d’Acre gewesen war und die letzten Templer hatte sterben sehen. Sie hätte das Gesicht und die Statur von Guy de Beaujeau und Thibaut de Gaudins Augenfarbe genau beschreiben können. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie tatsächlich dort gewesen war. Sie hatte diese Männer mit eigenen Augen gesehen.
Sie kam erfrischt aus der Dusche und zog ein langes T-Shirt an, bevor sie ins Bett zurückkehrte. Sie hatte kein anderes Nachthemd. Das Bett war klitschnass, also beschloss sie, den Computer anzumachen und noch ein Weilchen im Internet zu surfen.
Professor McFaddens Erklärungen und die Daten, die er ihr über die Geschichte der Templer zur Verfügung gestellt hatte, hatten sie tief berührt. Er hatte sie mit Details über den Fall von Saint Jean d’Acre – seiner Meinung nach einer der schwärzesten Tage in der Geschichte des Ordens – geradezu überschüttet.
Vielleicht hatte sie deswegen davon geträumt, wie neulich, als Sofia Galloni ihr von der Belagerung Edessas durch die byzantinischen Truppen berichtet hatte.
Morgen würde sie McFadden wiedersehen und versuchen, ihm noch mehr zu entlocken als diese so lebendigen Geschichten, die sie nicht mehr losließen und von denen sie Alpträume bekam.
39
Der Geruch des Meeres ließ ihn zuversichtlich in die Zukunft blicken. Er hatte die Tränen nicht mehr zurückhalten können, als er dem Orient für immer Adieu sagen musste. Die Brüder hatten sich in ihre Arbeit gestürzt, um ihn nicht weinen zu sehen. Er wurde alt, weil er so ohne jede Scham weinte. Auch als er sich von Said verabschiedete, hatte er geweint. Seit so vielen Jahren war es das erste Mal gewesen, dass sie sich umarmten, und beide hatten geweint, weil die Trennung war, als hätte man ihnen einen Teil aus ihrer Seele gerissen.
Für Said war die Stunde gekommen, zu seinem Volk zu gehen, während er, François de Charney, in eine Heimat zurückkehrte, die er kaum kannte und die er nicht als solche empfand. Sein Vaterland war der Templerorden und sein Haus der Orient. Nach Frankreich reiste die Hülle eines Mannes, der seine Seele am Fuße der Mauern von Saint Jean d’Acre zurückgelassen hatte.
Die Überfahrt verlief ohne besondere Vorkommnisse. Die Anweisungen von Guillaume de Beaujeau waren klar und deutlich gewesen: Er sollte das Grabtuch in die Festung der Templer in Marseille bringen und dort auf neue Anweisungen warten. Er hatte ihn schwören lassen, dass er die Reliquie nie aus den Augen lassen werde. Er würde sie mit seinem Leben verteidigen.
Trotz des Schmerzes in seinem Herzen machte ihm die Gesellschaft anderer Tempelritter, die, wie er, nach Frankreich zurückkehrten, die Reise leichter. Der Hafen von Marseille mit den vielen Schiffen und den zahllosen hin und her rennenden, und ohne Unterlass redenden Menschen war beeindruckend.
Als sie vom Schiff gingen, warteten schon ein paar Ritter auf sie, um sie zum Haus der Templer zu bringen. Keiner wusste etwas von der Reliquie in der Obhut von de Charney.
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