Die stumme Bruderschaft
den Bajerais, außer der Herkunft. Erinnert ihr euch an Tarik?«
»Wer ist Tarik?«, fragte Marco.
»Einer der Arbeiter, die in der Kathedrale waren, als es zu dem Brand kam. Er ist auch aus Urfa«, antwortete Giuseppe.
»Wie es aussieht, haben die Leute aus diesem Kaff ein Faible für Turin«, sagte Marco.
Minerva betrat die Bar. Sie sah müde aus. Marco hatte Gewissensbisse; er hatte sie in den letzten Tagen mit Arbeit überschüttet, aber sie war einfach die Beste am Computer, und Antonino hatte einen kühlen, analytischen Verstand. Er war sicher, dass die beiden ihre Arbeit gut machten.
»Nun, Marco, du kannst nicht behaupten, wir hätten unser Geld nicht redlich verdient«, rief Minerva aus.
»Ja, man hat mir schon von den vielen Leuten aus Urfa in Turin erzählt. Was habt ihr noch herausgefunden?«
»Dass sie keine praktizierenden Muslime sind, vielleicht sind sie sogar überhaupt keine Muslime. Alle besuchen die Messe«, erläuterte Minerva.
»Man darf nicht vergessen, dass Kemal Atatürk die Türkei zu einem weltlichen Land gemacht hat, also ist es nicht ungewöhnlich, dass sie keine praktizierenden Muslime sind. Komisch ist hingegen, dass sie so eifrig in die Messe gehen. Das spricht dafür, dass sie Christen sind«, sagte Antonino.
»Gibt es Christen in Urfa?«, fragte Marco.
»Soweit wir wissen, nicht, und nach Aussage der türkischen Behörden auch nicht«, antwortete Minerva.
Antonino räusperte sich, wie er das immer tat, bevor er sich über ein historisches Thema ausließ.
»In der Antike war Urfa eine christliche Stadt, keine geringere als Edessa. Die Byzantiner haben Edessa 944 belagert, um an das Grabtuch zu kommen, das damals in den Händen einer kleinen Christengemeinde im ansonsten muslimischen Edessa war.«
»Ruft Sofia an«, sagte Marco.
»Warum?«, fragte Pietro.
»Wir werden eine Art Brainstorming machen. Sofia hat erst vor kurzem gesagt, dass der Schlüssel vielleicht in der Vergangenheit liegt. Und Ana Jiménez ist der gleichen Ansicht.«
»Jetzt fang nicht an zu spinnen.«
Marco ärgerte sich über Pietros Worte.
»Was zum Teufel bringt dich auf den Gedanken, dass ich anfange zu spinnen?«
»Es kommt mir einfach so vor: Sofia und Ana mit ihrer blühenden Phantasie glauben, dass die Brände in der Kathedrale mit der Vergangenheit zu tun haben. Entschuldige, aber meiner Meinung nach haben Frauen einen Hang zum Geheimnisvollen, zu irrationalen Erklärungen, zur Esoterik, zu …«
»Was bildest du dir ein? Du bist ein Macho und ein Idiot!«, rief Minerva wütend aus.
»Beruhigt euch …«, bat Marco. »Es ist doch lächerlich, wenn wir jetzt anfangen, miteinander zu streiten. Sag, was du zu sagen hast, Pietro.«
»Antonino sagt, Urfa ist das ehemalige Edessa. Na und? Wie viele Städte wurden auf anderen errichtet? Hier in Italien liegt die Geschichte unter jedem Stein, und wir fangen auch nicht an, wie die Verrückten in der Vergangenheit zu wühlen, wenn es einen Mord oder einen Brand gibt. Ich weiß, dass dieser Fall etwas Besonderes für dich ist, Marco, aber, mit Verlaub, du bist besessen und misst ihm viel zu große Bedeutung bei. Es gibt ein paar Leute türkischer Herkunft, die aus einer Stadt namens Urfa kommen. Und? Wie viele Italiener aus ein und demselben Dorf sind in den schwierigen Jahren nach Frankfurt gegangen, um in den Fabriken zu arbeiten? Und die deutsche Polizei hat wohl kaum bei jedem von einem Italiener begangenen Verbrechen Julius Cäsar und seine Legionen in Verdacht gehabt. Ich will damit nur sagen, dass wir uns nicht von der Unvernunft leiten lassen sollten. Es gibt viel Schundliteratur mit esoterischen Geschichten über das Grabtuch, wir sollten uns davon nicht anstecken lassen.«
Marco dachte über Pietros hitziges Plädoyer nach. Was er sagte, klang durchaus logisch, vielleicht hatte er Recht. Aber Marco war ein alter Spürhund, er hatte eine gute Nase, und sein Instinkt riet ihm, nicht aufzugeben, so dumm sich das Ganze auch anhörte.
»Ich nehme das zur Kenntnis. Womöglich hast du Recht, aber da wir nichts zu verlieren haben, werden wir jeder Spur nachgehen. Minerva, bitte ruf Sofia. Wahrscheinlich ist sie noch wach. Was wissen wir sonst über Urfa?«
Antonino gab ihm einen kompletten Bericht über Urfa und Edessa. Er hatte vorausgesehen, dass Marco ihn darum bitten würde.
»Es ist allgemein bekannt, dass das Grabtuch in Edessa war«, sagte Pietro zynisch. »Sogar ich wusste das, ihr habt die Geschichte von diesem Grabtuch bis zum
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