Die stumme Bruderschaft
keine Zeit«, erwiderte der Alte. »Ich bitte um eure Zustimmung.«
»So soll es sein«, antworteten alle, bis auf einen, der die Zähne zusammenbiss und sich abwandte.
Sofia und Minerva waren im Hauptquartier der Turiner Carabinieri. Es war zwei Minuten vor neun, und Marco hatte sie gerade informiert, dass das Gefängnistor aufgegangen war. Der Stumme kam heraus. Er ging langsam, blickte starr geradeaus. Das Tor schloss sich hinter ihm, aber er drehte sich nicht um. Er ging zweihundert Meter bis zu einer Bushaltestelle und wartete. »Erstaunlich, wie ruhig er ist«, sagte Marco durch das im Revers verborgene Mikrofon zu ihnen. »Er scheint sich nicht einmal über die wiedererlangte Freiheit zu freuen.«
Mendibj war klar, dass er überwacht wurde. Er konnte sie nicht sehen, aber sie waren da. Er müsste sie ablenken, aber wie? Er würde versuchen, den Plan umzusetzen, den er sich im Gefängnis ausgedacht hatte. Er würde in die Stadt fahren, ein wenig herumschlendern, auf einer Parkbank übernachten. Er hatte nicht viel Geld. Er konnte sich höchstens für drei oder vier Tage eine Pension und ein paar Sandwichs leisten. Er würde auch versuchen, seine Kleidung und seine Turnschuhe loszuwerden. Er hatte zwar nichts gefunden, aber sein Instinkt sagte ihm, dass an der Reinigungsaktion etwas faul war.
Er kannte Turin. Addaio hatte sie lange vor dem versuchten Raub dorthin geschickt, damit sie die Stadt kennen lernten. Sie hatten seine Anweisungen befolgt: Sie waren tagelang kreuz und quer durch die Stadt gelaufen. Das war die beste Art, eine Stadt kennen zu lernen.
Er kam ins Zentrum. Das war der Moment, den Verfolgern zu entkommen.
»Ich glaube, wir haben Gesellschaft. Zwei Typen.«
Marcos Stimme kam über den Sender in das Hauptquartier.
»Wer sind sie?«, fragte Minerva.
»Keine Ahnung, aber sie sehen aus wie Türken.«
»Türken oder Italiener«, sagte Giuseppe, »sie sehen genau aus wie wir, schwarzes Haar und olivfarbene Haut.«
»Wie viele sind es?«
»Bis jetzt zwei«, sagte Marco, »aber vielleicht sind es auch mehr. Sie sind jung. Der Stumme scheint von allem nichts mitzubekommen. Er geht ziellos herum, sieht sich Schaufenster an, so teilnahmslos wie immer.«
Sie hörten, dass Marco den Carabinieri den Befehl gab, die beiden Typen nicht aus den Augen zu lassen.
Weder Marco Valoni noch das übrige Team bemerkten einen hinkenden Alten, der Lotterielose verkaufte. Mittelgroß, unauffällig gekleidet. Aber der Alte hatte sie bemerkt. Der von Addaio gedungene Mörder hatte Adleraugen. Bis jetzt hatte er bereits zehn Polizisten ausgemacht, und vier Leute von Bakkalbasi.
Er war verärgert. Der Mann, der ihn angeheuert hatte, hatte nichts von Polizei gesagt, und auch nichts davon, dass noch andere Killer hinter dem Stummen her waren. Er musste vorsichtig sein, und natürlich würde er mehr Geld verlangen. Das Risiko war größer. Und die vielen Begleiter machten es ihm unmöglich, seinen Job so zu machen, wie er geplant hatte.
Und noch einer kam ihm verdächtig vor. Aber nein, das war kein Bulle, und er sah auch nicht türkisch aus, der hatte bestimmt nichts mit der Sache zu tun, obwohl, die Art, wie er sich bewegte … Plötzlich war er verschwunden und der Killer beruhigte sich. Ein Passant, sonst nichts.
Den ganzen Tag ging Mendibj durch die Stadt. Er hatte den Gedanken verworfen, auf einer Parkbank zu schlafen. Wenn jemand vorhatte, ihn zu töten, wollte er es ihm nicht so einfach machen. So ging er zur Herberge der Barmherzigen Schwestern, die er am Morgen bei seinem Streifzug durch Turin entdeckt hatte. Das war eine Anlaufstelle für Landstreicher und Bettler auf der Suche nach einem Teller Suppe und einem Schlafplatz. Dort wäre er sicherer.
Marco war erschöpft. Er hatte Pietro das Kommando übergeben, nachdem sie festgestellt hatten, dass der Stumme seine Suppe gegessen und sich schlafen gelegt hatte.
Marco war sicher, dass der Stumme sich in dieser Nacht nicht mehr vom Platz rühren würde, und so ging er ins Hotel, um ein wenig auszuruhen. Seinen Männern befahl er, dasselbe zu tun, ausgenommen Pietro und ein frisches Team aus drei Carabinieri – genug, um den Stummen zu verfolgen, falls er doch noch auf die Idee kam, die Herberge zu verlassen.
Sofia und Minerva quetschten Marco im Hotelrestaurant förmlich aus. Sie wollten alles wissen, dabei hatten sie doch über den Sender alles mitverfolgen können. Sie baten ihn vergebens, bei der Verfolgung mitmachen zu können.
»Ich brauche
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