Die stumme Bruderschaft
als fünfzig doppelseitig beschriebene Blätter.
»Hier, auf diesen Seiten kannst du nachlesen, was vorgefallen ist. Darin teilt dir mein Sohn auch seinen Verdacht mit.«
Addaio schaute die Papiere nicht an. Er erhob sich und ging schweigend auf und ab. Entschlossen baute er sich vor Zafarin auf, ballte die Fäuste, und einen Moment lang sah es so aus, als wollte er dem Jungen ins Gesicht schlagen, aber dann ließ er die Arme sinken.
»Weißt du, was diese Niederlage für uns bedeutet? Monate, vielleicht Jahre, bis wir es wieder versuchen können! Die Polizei hakt gründlich nach, und wenn welche von uns verhaftet werden und den Mund aufmachen, was dann?«
»Aber sie wissen doch gar nicht, worum es ging …«, fiel ihm Zafarins Vater ins Wort.
»Schweig! Was weißt du denn schon? Unsere Leute in Italien, in Deutschland oder wo auch immer, wissen, was sie wissen müssen, und wenn sie der Polizei in die Hände fallen, wird man sie zum Sprechen bringen, und dann kommen sie uns am Ende auf die Spur. Und was sollen wir dann machen? Sollen wir uns alle die Zungen abschneiden, um unseren Herrn nicht zu verraten?«
»Was geschehen wird, ist Gottes Wille«, sagte Zafarins Vater.
»Nein. Das ist es nicht. Das ist das Resultat des Scheiterns und der Dummheit derjenigen, die nicht fähig sind, seinen Willen zu erfüllen. Es ist meine Schuld, weil ich nicht die Besten ausgewählt habe.«
Die Tür ging auf, und der kleine Mann brachte zwei weitere junge Männer in Begleitung ihrer Väter herein.
Rasit und Dermisat, die beiden anderen Stummen, umarmten Zafarin unter dem zornigen Blick von Addaio.
Zafarin hatte nicht gewusst, dass seine Kameraden schon in Urfa waren. Addaio hatte absolutes Stillschweigen unter den Familienmitgliedern und Freunden befohlen, damit sie sich erst hier begegneten.
Die Väter von Rasit und Dermisat sprachen im Namen ihrer Söhne und baten um Verständnis und Milde.
Addaio schien ihnen gar nicht zuzuhören, die Verzweiflung nagte an ihm.
»Ihr werdet die Sünde büßen, die ihr durch euer Scheitern wider unseren Herrn begangen habt.«
»Genügt es dir nicht, dass unsere Söhne ihre Zunge geopfert haben? Welche Strafe willst du ihnen noch auferlegen?«, wagte sich Rasits Vater vor.
»Du wagst es, mich herauszufordern!«, schrie Addaio.
»Nein. Da sei Gott vor! Du weißt, dass wir treue Diener unseres Herrn sind und dass wir dir gehorchen werden. Wir bitten dich nur um Erbarmen«, antwortete Rasits Vater.
»Du bist unser Hirte«, sagte Dermisats Vater, »dein Wort ist Gesetz, dein Wille geschehe, denn du bist der Stellvertreter des Herrn auf Erden.«
Sie knieten nieder und beteten mit gesenkten Köpfen. Sie konnten nur Addaios Entscheidung abwarten.
Bis zu diesem Moment hatten die acht Männer am Tisch kein Wort gesagt. Auf ein Zeichen Addaios verließen sie den Raum, und er folgte ihnen. Sie gingen in ein Nebenzimmer, um zu beraten.
»Und?«, fragte Addaio. »Glaubt ihr, dass es einen Verräter unter uns gibt?«
Das ominöse Schweigen der Männer erzürnte Addaio.
»Habt ihr nichts zu sagen? Nichts? Nach allem, was passiert ist …«
»Addaio, du bist unser Hirte, der Auserwählte unseres Herrn; du musst uns erleuchten«, sagte einer.
»Nur ihr acht kennt den ganzen Plan. Nur ihr wisst, wer unsere Kontaktpersonen sind. Wer ist der Verräter?«
Die acht traten unruhig auf der Stelle und sahen sich gegenseitig an, unschlüssig, ob die Worte ihres Hirten nur Provokation waren oder ob er sie tatsächlich des Verrats bezichtigte. Sie waren neben Addaio die Stützpfeiler der Gemeinschaft, ihre Stammbäume verloren sich in der Zeit, sie waren Jesus, ihrer Stadt, ihrem Auftrag treu.
»Wenn es einen Verräter gibt, wird er sterben.«
Addaios Urteil ließ die Männer erschaudern, denn sie wussten, dass er dazu fähig war. Ihr Hirte war ein guter Mensch, der bescheiden lebte und jedes Jahr vierzig Tage fastete zur Erinnerung an Jesus’ Fasten in der Wüste. Er half jedem, der zu ihm kam, ob er Arbeit wollte, Geld oder dass er in einem Familienstreit vermittelte. Sein Wort hatte Gewicht. Er war ein geachteter Mann in Urfa, wo er Rechtsanwalt war und man ihn als solchen kannte und schätzte.
Wie die Männer, die ihn begleiteten, hatte Addaio seit seiner Kindheit ein geheimes Leben gehabt, er betete außerhalb des Blickfeldes seiner Nachbarn und Freunde, denn er trug ein Geheimnis mit sich, das ihrer aller Leben bestimmte, wie es schon das der Väter und Urahnen bestimmt hatte.
Er hätte es
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