Die stumme Bruderschaft
sie könnten nach Edessa zurückkehren, aber wenn dem nicht so war? Wem sollten sie anvertrauen, wo Marcius das Grabtuch versteckt hatte? Sie konnten dieses Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen.
Stunden vergingen, Timäus bemerkte es nicht. Als Izaz und Obodas am Abend kamen, kniete er immer noch da und betete. Er hatte einen Entschluss gefasst.
Timäus erhob sich langsam. Seine Knie waren taub und schmerzten. Er lächelte seinen Gästen zu und bat sie, ihn zum Haus seines Enkels zu begleiten, von dem sie nur ein kleiner Garten trennte.
»Johannes! Johannes!«, rief er.
Aus dem weiß gekalkten, vor der Sonne durch Weinlaub geschützten Haus kam eine junge Frau mit einem Kind auf dem Arm.
»Er ist noch nicht da, Großvater. Er muss jeden Moment kommen, du weißt doch, zum Gebet ist er immer da.«
»Das ist Alaida, die Frau meines Enkels. Und das ist ihre kleine Tochter Miriam.«
»Kommt herein, und trinkt ein wenig kühles Wasser mit Honig«, sagte Alaida.
»Nein, mein Kind, jetzt nicht; die Brüder kommen gleich zum Gebet. Ich wollte nur, dass Johannes und du diese beiden jungen Männer kennen lernt. Sie werden von nun an bei mir leben.«
Sie gingen zum Tempel zurück, wo sich ein paar Familien versammelt hatten und plauderten, Bauern und kleine Handwerker, die zum Glauben Jesu übergetreten waren. Timäus stellte ihnen Izaz und Obodas vor und forderte die beiden auf, von ihrer Flucht aus Edessa zu berichten.
Ein wenig schüchtern schilderte Izaz, was sich in Edessa zugetragen hatte, und beantwortete die einfachen Fragen der Gemeindemitglieder. Als er geendet hatte, forderte Timäus sie auf, zu Jesus zu beten, er möge die Gläubigen in Edessa schützen. Und das taten sie. Sie beteten und sangen und teilten das Brot und den Wein, den Alaida mitgebracht hatte.
Johannes war kräftig gebaut, weder groß noch klein, und sein Haar war so schwarz wie der Bart. Er war spät in Begleitung von Harran und anderen Männern aus der Karawane gekommen, die Säcke bei sich trugen. Timäus bat sie herein.
»Senin, mein Herr«, sagte Harran, »bat mich, euch diese Geschenke zu überreichen. Sie sollen euch helfen, Josars Neffen Izaz und seinen Wächter zu versorgen. Ich soll dir auch diesen Sack Gold geben, falls ihr in Schwierigkeiten kommt.«
Izaz beobachtete erstaunt, was da alles angeschleppt wurde. Senin war sehr großzügig, schon vor ihrem Aufbruch hatte er ihnen einen Beutel Gold gegeben, so viel, dass sie davon bis ans Ende ihrer Tage leben konnten.
»Danke, Harran, guter Freund. Ich werde für Senin beten, damit er von Maanus Zorn verschont bleibt und du ihn so vorfindest, wie du ihn verlassen hast. Sag deinem Herrn, dass wir die Geschenke für das Wohlergehen der Armen und unserer kleinen Gemeinde verwenden werden. Du bleibst ja noch ein paar Tage in Sidon, so habe ich Zeit, Senin zu schreiben.«
Die Alpträume ließen Izaz nicht zur Ruhe kommen. Er sah von Flammen verzehrte Gesichter und ein blutgetränktes Feld. Als er aufwachte, war er in Schweiß gebadet.
Er ging hinaus, um sich am Trog im Garten ein wenig zu erfrischen, und er traf dort auf Timäus, der gerade einen Zitronenbaum beschnitt. Dieser bat ihn, die Morgenfrische zu nutzen und ihn zu einem Spaziergang zum Strand zu begleiten.
»Wird Obodas sich nicht erschrecken, wenn er aufwacht?«
»Sicher, aber ich werde Johannes bitten, sich um ihn zu kümmern. Er soll ihm sagen, wo wir sind.«
Als er seinem Enkel Bescheid gesagt hatte, der ebenfalls schon auf den Beinen war und in dem gemeinsamen Garten arbeitete, machten sie sich auf den Weg zum Strand.
Das Mittelmeer, das Mare Nostrum, wie es die Römer nannten, war an diesem Morgen aufgewühlt. Die Wellen schlugen mit Macht gegen die Felsen und rissen den Sand mit sich fort.
Izaz verfolgte das Schauspiel gebannt. Es war das erste Mal, dass er diese ungeheuren Wassermassen sah, und es erschien ihm wie ein Wunder.
»Izaz, Gott hat gewollt, dass wir die Hüter eines großen Geheimnisses sind und wissen, wo das Grabtuch seines Sohnes ist, das so viele Wunder bewirkt hat. Wo Marcius es versteckt hat, muss es bleiben, ganz gleich, wie lange. Edessa muss erst wieder christlich werden, und wir müssen sicher sein, dass das Tuch nicht in Gefahr ist. Vielleicht werden weder du noch ich diesen Tag erleben, und wenn ich sterbe, musst du einen Mann auswählen, der der nächste Hüter des Geheimnisses wird und es seinerseits an einen anderen Mann weitergibt, bis kein Schatten das Leben der Christen in
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