Die stumme Bruderschaft
sie an ihrem Glauben an Jesus festhielten.«
»Ich kenne die Geschichte dieser Stadt«, sagte Eulalius ungeduldig.
»Dann weißt du auch, dass der leprakranke Abgarus von Jesus geheilt wurde. Josar hat das Grabtuch, in das der Leichnam unseres Herrn eingehüllt war, nach Edessa gebracht. Die Berührung des kranken Körpers mit dem heiligen Tuch ließ das Wunder geschehen, und der König wurde gesund. Das Tuch hat etwas Außergewöhnliches: Es trägt das Abbild des Herrn mit den Spuren der Folter, und solange Abgarus lebte, wurde das Tuch verehrt.«
»Sag mir, Junge, warum schickt Abib dich?«
»Verzeih, Eulalius, ich weiß, dass ich deine Geduld strapaziere, aber hör mich bis zu Ende an. Als Abgarus spürte, dass der Tod nahte, sagte er zu seinen Freunden Thaddäus, Josar und Marcius, dem königlichen Architekten, sie sollten das Tuch an einen Platz bringen, wo es nicht gefunden werden kann. Marcius wurde damit betraut, und nicht einmal die beiden Jünger Thaddäus und Josar wussten, wo er es versteckt hatte. Marcius schnitt sich die Zunge heraus, damit er auch unter größter Folter nicht sagen konnte, wo das Tuch war. Er hat große Qualen gelitten wie viele andere geachtete Männer Edessas. Nur ein Mann wusste, wo Marcius das Tuch mit dem Angesicht Christi versteckt hatte.«
Eulalius’ Augen glänzten. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Der Junge kam ihm nicht verrückt vor, auch wenn sich die Geschichte aberwitzig anhörte.
»Marcius hat das Geheimnis Izaz, Josars Neffen, anvertraut. Izaz ist aus Edessa geflohen, bevor Maanu ihn töten konnte. Er kam nach Sidon, wo Timäus und sein Enkel Johannes, meine Vorfahren, lebten.«
»Mit dem Grabtuch?«
»Mit dem Geheimnis, wo es zu finden ist. Timäus und Izaz schworen, den Wunsch von Abgarus und den Jüngern zu erfüllen: Das Grabtuch sollte Edessa nicht verlassen. Es gehört zu dieser Stadt, aber es sollte so lange versteckt gehalten werden, bis es nicht mehr in Gefahr ist. Sie vereinbarten, wenn die Christen weiter verfolgt würden und sie stürben, würden sie das Geheimnis an einen anderen Mann weitergeben. Auch dieser dürfte es nicht verraten, bis die Christen in Frieden leben könnten und das Tuch sicher wäre. Sie haben das Versteck Johannes, Timäus’ Enkel, anvertraut, und so wurde das Geheimnis Generation für Generation in meiner Familie weitergetragen.«
»Gütiger Gott! Bist du sicher? Ist das nicht alles nur erfunden? Wenn dem so ist, hast du eine Strafe verdient. Den Namen Gottes nennt man nicht im Spaß. Sag mir, wo ist das Tuch? Hast du es?«
Johannes schien Eulalius gar nicht zu hören, müde wie er war, und redete einfach weiter.
»Vor kurzem ist mein Vater gestorben. Auf seinem Totenbett hat er mir das Geheimnis des Grabtuchs anvertraut. Er hat mir von Thaddäus und Josar erzählt, und von Izaz, der vor seinem Tod einen Plan von Edessa gezeichnet hat. Ich habe diesen Plan, und dort ist der Ort verzeichnet, wo Marcius das Grabtuch unseres Herrn versteckt hat.«
Der Junge hielt inne. Seine fiebrigen Augen verrieten die Anstrengung, der sein Körper und sein Geist ausgesetzt waren, seit er das Geheimnis kannte.
»Sag, warum wollte deine Familie das Versteck bis jetzt nicht verraten?«
»Mein Vater sagte, sie hätten die ganze Zeit Angst gehabt, das Tuch könnte in falsche Hände geraten und zerstört werden. Keiner meiner Vorfahren hat es jemals gewagt, das Geheimnis zu enthüllen, und dem Nachfolgenden die Verantwortung aufgebürdet.«
Johannes’ Augen glänzten feucht. Der Schmerz über den Tod seines Vaters zerriss ihn innerlich. Dazu kam die Beklemmung, Träger eines Geheimnisses zu sein, das die Christenheit in Aufruhr versetzen würde.
»Hast du den Plan? Gib ihn mir«, befahl Eulalius.
»Nein, ich kann ihn dir nicht geben. Ich muss mit dir bis zu dem Platz gehen, wo das Tuch versteckt ist, und wir dürfen das Geheimnis niemandem verraten.«
»Aber Junge, wovor hast du denn Angst?«
»Das Grabtuch bewirkt Wunder, aber im Kampf um seinen Besitz haben viele Christen ihr Leben lassen müssen. Wir müssen ganz sicher sein, und ich glaube, ich bin zu einem schlechten Zeitpunkt nach Edessa gekommen. Meine Karawane ist auf Reisende gestoßen, die berichtet haben, die Stadt könnte wieder belagert werden. Über Generationen waren die Männer meiner Familie die schweigenden Hüter des Grabtuchs Christi, und jetzt will ich keinen Fehler machen.«
Der Bischof stimmte ihm zu. Er sah den Schmerz und die Erschöpfung im Gesicht des
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