Die stumme Bruderschaft
Diktat des Verstandes folgen. Zu deinem Besten und um des Geheimnisses willen, das deine Familie so lange bewahrt hat, musst du am Leben bleiben. Mach dich zum Aufbruch bereit, in den nächsten drei Tagen wirst du die Stadt verlassen. Eine Gruppe von Händlern hat eine Karawane organisiert, es ist die letzte Möglichkeit für dich, dich in Sicherheit zu bringen.«
»Und wenn ich dir sage, wo das Grabtuch ist?«
»Dann werde ich dir helfen, es zu retten.«
Johannes verließ verwirrt das Zimmer, die Augen voller Tränen. Er ging auf die Straße hinaus, wo die morgendliche Kühle noch nicht von der glühenden Junisonne verdrängt worden war, und strich ziellos herum. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass die Bewohner von Edessa sich auf die drohende Belagerung vorbereiteten.
Die Arbeiter verstärkten unermüdlich die Mauern, und bedrückt dreinblickende Soldaten eilten geschäftig umher. In den Läden lagen kaum noch Waren aus, und den Menschen, denen er begegnete, stand die Angst ins Gesicht geschrieben.
Wie egoistisch war er gewesen, gar nicht wahrzunehmen, was um ihn herum vorging. Zum ersten Mal hatte er Sehnsucht nach Miriam, seiner jungen Frau. Er hatte ihr nicht einmal eine Nachricht geschickt, dass er gut angekommen war. Eulalius hatte Recht: Entweder er verließ Edessa sofort, oder er würde dasselbe Schicksal erleiden wie seine Bewohner. Ein Schauer fuhr ihm über den Rücken, denn dieses Schicksal konnte der Tod sein.
Er wusste nicht, wie viele Stunden er durch die Stadt gegangen war, aber als er in Eulalius’ Haus zurückkehrte, spürte er den Durst, der ihn schon den ganzen Tag über begleitet hatte, und sein Magen verlangte nach etwas zu essen. Eulalius, Efren und Kaiman sprachen gerade mit zwei adeligen Gesandten des Hofes.
»Tritt ein, Johannes. Hannan und Maruta haben traurige Nachrichten«, sagte er. »Der Angriff der Perser ist nur noch eine Frage der Zeit. Aber Edessa wird sich nicht ergeben. Heute sind zwei Wagen an die Tore der Stadt gekommen. Darin befanden sich die Köpfe eines Soldatentrupps, der ausgezogen war, um die Truppenstärke von Chosroes zu inspizieren. Wir sind im Krieg.«
Die beiden Adeligen sahen Johannes ohne großes Interesse an und baten den Bischof um Erlaubnis, mit der Schilderung fortzufahren.
Johannes hörte ihnen zu und war entmutigt. Selbst wenn er wollte, wäre es äußerst schwer die Stadt zu verlassen. Die Lage war schlimmer, als Eulalius geglaubt hatte: Keine Karawane ver ließ mehr die Stadt. Niemand wollte getötet werden, kaum dass die Reise begonnen hatte.
Die nächsten Tage erlebte Johannes wie einen Alptraum. Von den Mauern Edessas konnte man deutlich die persischen Soldaten um ihre Feuer stehen sehen. Manchmal dauerten ihre Angriffe den ganzen Tag.
Die Männer Edessas erwiderten die Angriffe. Bislang waren weder die Nahrung noch das Wasser knapp, denn der König hatte Weizen und Tiere heranschaffen lassen, damit es den Verteidigern der Stadt an nichts mangelte.
»Schläfst du, Johannes?«
»Nein, Kaiman, ich kann schon seit Tagen nicht schlafen. Ich höre in meinem Kopf ständig das Zischen der Pfeile und die Schläge gegen die Stadtmauer.«
»Die Stadt ist kurz davor aufzugeben. Wir können nicht mehr lange Widerstand leisten.«
»Ich weiß, Kaiman, ich weiß. Ich komme nicht mehr nach damit, die Wunden der Soldaten zu versorgen, und Frauen und Kinder sterben mir unter den Händen weg. Meine Hände sind schon ganz schwielig von den vielen Löchern, die ich für die Toten gegraben habe. Und ich weiß auch, dass Chosroes’ Soldaten niemanden am Leben lassen werden. Wie geht es Eulalius? Ich habe mich gar nicht um ihn kümmern können …«
»Er möchte, dass du zuerst denen hilfst, die es am nötigsten brauchen. Er ist sehr schwach, und Schmerzen plagen ihn. Er hat einen geschwollenen Bauch, aber er beklagt sich nicht.«
Johannes seufzte. Seit Tagen lief er an der Stadtmauer von einer Stelle zur anderen. Er kümmerte sich um die sterbenden Soldaten, denen er keine Linderung verschaffen konnte, weil ihm die Pflanzen zum Zubereiten von Arznei ausgegangen waren.
Verzweifelte Frauen klopften an seine Tür und baten ihn, ihre Kinder zu retten, und mit Tränen der Ohnmacht in den Augen musste er zusehen, wie sie starben.
Wie hatte sich sein Leben verändert, seit er Alexandria verlassen hatte. Wenn er in einen unruhigen Halbschlaf sank, träumte er von dem reinen Geruch des Meeres, den sanften Händen von Miriam, dem warmen Essen, das ihm seine alte
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