Die stumme Bruderschaft
Dienerin zubereitete, von seinem Haus, umgeben von Orangenbäumen. In den ersten Monaten der Belagerung hatte er sein Schicksal verflucht und sich vorgeworfen, dass er auf der Jagd nach einem Traum nach Edessa gekommen sei. Aber jetzt fehlte ihm selbst hierfür die Kraft.
»Ich werde Eulalius aufsuchen.«
»Das wird ihm gut tun.«
In Begleitung von Kaiman ging er zu dem Zimmer, in dem der Bischof betend ruhte.
»Eulalius …«
»Willkommen, Johannes. Setz dich zu mir.«
Der Arzt war erschüttert vom Anblick des alten Mannes. Er war geschrumpft, und seine Knochen schienen unter der feinen Haut durch, deren Farbe den baldigen Tod ankündigte. Er, der stolz nach Edessa gekommen war, um der Christenheit das Antlitz des Herrn zu zeigen, hatte sich nicht getraut, seine Aufgabe zu erfüllen. Er hatte in den letzten Monaten nicht einmal mehr an das heilige Tuch gedacht; jetzt, wo er den Tod um Eulalius’ Bett schleichen sah, wurde ihm klar, dass schon bald auch er sterben würde.
»Kaiman, lass mich mit Eulalius allein.«
Der Bischof gab dem Priester ein Zeichen, und Kaiman ging voller Sorge hinaus. Johannes setzte sich zu dem Bischof und nahm seine Hand.
»Verzeih mir, Eulalius, ich habe seit meiner Ankunft alles falsch gemacht, und meine schlimmste Sünde war, dir nicht vertraut zu haben. Es war Hochmut, dir nicht zu sagen, wo sich das Grabtuch befindet. Ich werde es dir jetzt sagen, und dann entscheidest du, was wir tun sollen. Gott möge mir den Zweifel verzeihen, aber wenn auf dem Tuch wirklich das Abbild des Herrn ist, dann wird Er uns vor dem sicheren Tod retten, so wie er einst den kranken Abgarus gerettet hat.«
Eulalius hörte ihm staunend zu. Das Grabtuch Christi war also seit dreihundert Jahren in einer Nische der Stadtmauer über dem Westtor hinter Steinen verborgen, an der einzigen Stelle, die dem Ansturm des persischen Heeres bislang standgehalten hatte.
Er richtete sich unter großen Mühen auf und umarmte Johannes.
»Gelobt sei der Herr! In meinem Herzen ist eine riesige Freude. Du musst zur Stadtmauer gehen und das Grabtuch retten. Efren und Kaiman werden dir helfen, aber du musst dich beeilen, ich fühle, dass Jesus sich unser noch immer erbarmen und ein Wunder bewirken kann.«
»Nein, ich kann doch nicht vor die Soldaten treten, die unter Einsatz ihres Lebens das Westtor bewachen, und sagen, dass ich eine versteckte Nische in der Mauer suche. Sie werden mich für verrückt halten oder denken, dass ich dort einen Schatz versteckt habe … Nein, ich kann da nicht hingehen.«
»Du wirst dort hingehen, Johannes.«
Auf einmal hatte Eulalius’ Stimme ihre Festigkeit zurückgewonnen. Diesmal würde Johannes ihm gehorchen.
»Erlaube mir, Eulalius, dass ich sage, du schickst mich.«
»Ich schicke dich ja auch. Bevor du mit Kaiman kamst, habe ich im Traum die Stimme von Jesus’ Mutter gehört. Sie sagte, Edessa werde gerettet. Und so wird es kommen, wenn Gott will.«
Im Zimmer konnte man die Schreie der Soldaten und das Wienen der wenigen noch lebenden Kinder hören. Eulalius ließ Kaiman und Efren rufen.
»Ich hatte einen Traum. Ihr werdet Johannes an das Westtor begleiten und …«
»Aber Eulalius«, rief Efren entsetzt, »die Soldaten werden uns nicht durchlassen …«
»Geht und befolgt die Befehle Johannes’. Edessa kann gerettet werden.«
Der Hauptmann befahl den Priestern zornig, sofort zu verschwinden.
»Das Tor gibt gleich nach, und ihr wollt nach einer verborgenen Nische suchen … Ihr seid verrückt! Es ist mir gleich, ob der Bischof euch schickt. Verschwindet!«
Johannes trat vor und erklärte dem Hauptmann, sie würden die Mauer absuchen, ob mit seiner Hilfe oder ohne.
Pfeile schossen an ihnen vorbei, aber die drei Männer meißelten unermüdlich an der Mauer, unter den verblüfften Blicken der Soldaten, die mit letzter Kraft diesen Teil der Mauer verteidigten.
»Hier ist etwas!«, rief Kaiman.
Minuten später hatte Johannes einen kleinen Korb in der Hand. Er öffnete ihn und entfaltete das sorgfältig zusammengelegte Tuch.
Ohne auf Efren oder Kaiman zu warten, lief er zu Eulalius’ Haus. Sein Vater hatte die Wahrheit gesagt: Seine Familie wusste tatsächlich, wo das Leintuch verborgen war, in das Joseph von Arimathia Jesus’ Leichnam eingehüllt hatte.
Der Bischof zitterte, als er Johannes so aufgeregt hereinstürzen sah. Dieser breitete das Tuch vor ihm aus, und er stand aus dem Bett auf und fiel staunend auf die Knie, während er das deutlich umrissene Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher