Die stumme Bruderschaft
quält.«
»Ja, es macht mir Sorgen, dass wir einen Verräter unter uns haben, und es ist meine Verpflichtung, nichts für sicher zu halten.«
»Aber das mit dem Brief war einfach zu offensichtlich.«
»Vielleicht wollte ich, dass du ihn findest, um dich zu warnen, falls du der Verräter wärest. Du bist mein einziger Freund, ich will dich nicht verlieren.«
»Es ist gefährlich, dass du nach Italien gehst.«
»Wenn ich nichts tue, ist es noch gefährlicher.«
»In Turin haben wir Leute, die tun, was du befiehlst. Wenn die Polizei etwas vorbereitet, solltest du dich nicht dort zeigen.«
»Wieso gehst du davon aus, dass die Polizei etwas vorbereitet?«
»Das wird in dem Brief angedeutet. Willst du mir schon wieder eine Falle stellen?«
»Ich werde erst nach Berlin reisen, dann nach Mailand, und dann nach Turin. Ich schätze Mendibjs Familie, das weißt du, aber ich kann nicht zulassen, dass er zum Problem wird.«
»Du kannst ihn aus Turin herausholen, wenn sie ihn freilassen.«
»Und wenn es eine Falle ist? Wenn sie ihn freilassen, um ihn zu verfolgen? Das würde ich an ihrer Stelle tun. Ich kann nicht zulassen, dass er die Gemeinschaft in Gefahr bringt, das weißt du genau. Ich bin für viele Familien verantwortlich, auch für deine. Willst du, dass sie uns fertig machen, uns alles nehmen, was wir besitzen? Sollen wir die Erinnerung verraten, die unsere Vorfahren uns vererbt haben? Wir sind, was wir sein sollen, nicht wer wir sein wollen.«
»Es ist wirklich riskant, nach Turin zu fahren.«
»Ich bin nicht leichtsinnig, das weißt du, aber in dem Brief steht, dass sie uns eine Falle stellen wollen, und ich muss handeln, damit wir nicht hineintappen.«
»Mendibjs Tage sind gezählt.«
»Die Tage aller Menschen sind gezählt. Jetzt lass mich arbeiten, und gib mir Bescheid, wenn Talat kommt.«
Guner verließ das Büro und ging in die Kapelle. Dort kniete er nieder und ließ seinen Tränen freien Lauf, in dem Kreuz auf dem Altar suchte er eine Antwort auf sein Leid.
26
»Du leidest allmählich unter Verfolgungswahn.«
»Sie h mal, Giuseppe, ich bin sicher, dass die Stummen an irgendeiner Stelle in die Kathedrale rein- und auch wieder rauskommen, bloß eben nicht durch den Haupteingang. Du weißt doch, der Boden unter Turin ist eine Art Schweizer Käse: lauter Tunnel.«
Sofia sagte nichts dazu, aber sie fand, dass Marco Recht hatte.
Die Stummen kamen und gingen, ohne Spuren zu hinterlassen. Und ihre Komplizen auch. Sie war überzeugt, dass sie es mit einer Organisation zu tun hatten, die die Stummen auswählte, um die Diebstähle zu begehen – falls es tatsächlich darum ging, das Grabtuch zu stehlen, wie Marco behauptete.
Ihr Chef hatte sich in letzter Minute entschlossen, sie nach Turin zu begleiten. Der Kulturminister hatte ihnen die Erlaubnis des Verteidigungsministers verschafft, die Tunnel zu untersuchen, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren. In den Plänen der Militärs war kein direkter Tunnel verzeichnet, der zur Kathedrale führte, aber sein Instinkt sagte Marco, dass sie nicht stimmten. Und so wollte er mit einem Kommandanten und vier Pionieren eines Ingenieurregiments die normalerweise verschlossenen Tunnel abgehen. Er hatte ein Dokument unterzeichnet, dass er auf eigene Gefahr handelte, und der Minister hatte ihm gesagt, er dürfe auf keinen Fall das Leben des Kommandanten und der Soldaten in Gefahr bringen.
»Wir haben die Pläne doch studiert, da ist kein Tunnel, du hast es mit eigenen Augen gesehen.«
»Giuseppe«, unterbrach ihn Sofia, »wir wissen nicht alles über den Untergrund von Turin. Wer weiß, was wir alles entdecken würden, wenn wir anfingen zu graben. Einige Gänge sind noch nicht erforscht, andere scheinen nirgendwohin zu führen. Also kann es sehr wohl einen zur Kathedrale geben. Das wäre durchaus logisch. Die Stadt wurde oft belagert, und die Kathedrale beherbergt einzigartige Kunstschätze, die die Turiner vor dem Feind schützen wollten. Es ist gar nicht so abwegig, dass irgendeiner der blinden Tunnel zur Kathedrale oder in ihre Nähe führt.«
Giuseppe schwieg. Er hatte Respekt vor Marcos und Sofias Wissen, sie waren Historiker, und oft sahen sie Dinge, die andere nicht sahen. Außerdem war Marco besessen von dem Fall. Entweder würde er ihn lösen, oder er würde alles hinwerfen, denn seit Monaten beschäftigte er sich mit nichts anderem als mit diesem Brand.
Sie stiegen im Hotel Alexandra in der Nähe der Turiner Altstadt ab. Am nächsten Tag
Weitere Kostenlose Bücher