Die stumme Bruderschaft
einen gibt. Glauben Sie doch nicht all die phantastischen Geschichten, die über die Kathedrale geschrieben werden.«
»Hochwürden, ich bin Historikerin.«
»Ich weiß, ich weiß, Dottoressa, und ich bewundere und respektiere die Arbeit, die das Dezernat für Kunstdelikte macht. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, glauben Sie mir.«
»Ich weiß, Hochwürden, aber es ist nicht immer alles aufgeschrieben worden. Wir wissen nicht, was in der Vergangenheit alles geschehen ist, und noch weniger, was die Menschen damals umgetrieben hat.«
Als Sofia ins Hotel zurückkehrte, traf sie in der Eingangshalle Ana Jiménez. Sofia merkte sofort, dass sie auf sie gewartet hatte.
»Dottoressa …«
»Wie geht es Ihnen?«
»Gut. Erinnern Sie sich an mich?«
»Ja, Sie sind die Schwester von Santiago Jiménez.«
»Wissen Sie, was ich in Turin mache?«
»Die Brände in der Kathedrale untersuchen.«
»Ich weiß, dass ich Ihrem Chef ein Dorn im Auge bin.«
»Das ist doch normal, Ihnen würde es ja auch nicht gefallen, wenn die Polizei sich in Ihre Arbeit einmischte.«
»Nein, das würde mir gar nicht gefallen, und ich würde versuchen, sie loszuwerden. Ich weiß, dass es Ihnen naiv vorkommt, aber ich glaube, ich kann Ihnen helfen. Sie können mir vertrauen. Mein Bruder bedeutet mir sehr viel, und ich würde nichts tun, das ihm schadet. Ich würde gerne eine Reportage schreiben, ja, aber ich werde es nicht tun, bevor alles restlos geklärt ist und die Ermittlungen abgeschlossen sind.«
»Sie werden verstehen, dass das Dezernat für Kunstdelikte Sie nicht in das ermittelnde Team aufnehmen kann.«
»Aber wir können parallel arbeiten. Ich werde Ihnen erzählen, was ich weiß, und Sie sind offen zu mir.«
»Ana, das ist eine offizielle Ermittlung.«
»Ich weiß, ich weiß.«
»Warum ist die Sache so wichtig für Sie?«
»Das kann ich Ihnen nicht erklären. Das Grabtuch hat mich nie interessiert, ich wusste gar nichts von den Bränden und den Diebstählen in der Kathedrale. Meine Neugier wurde im Haus Ihres Chefs geweckt. Mein Bruder hatte mich zu einem Essen dorthin mitgenommen, und den ganzen Abend wurde über nichts anderes geredet. Seitdem geht mir die Geschichte nicht mehr aus dem Kopf.«
»Haben Sie etwas herausgefunden?«
»Trinken wir einen Kaffee?«
»Einverstanden.«
Ana Jiménez seufzte erleichtert, und Sofia tat es schon Leid, dass sie die Einladung der Journalistin angenommen hatte. Sie gefiel ihr, und sie glaubte auch, dass man ihr vertrauen konnte, aber Marco hatte Recht, warum sollten sie sie mit einbeziehen? Wozu?
»Schön, erzählen Sie«, bat Sofia.
»Ich habe verschiedene Versionen der Geschichte des Grabtuchs gelesen, es ist äußerst spannend.«
»Ja, das ist es.«
»Meiner Meinung nach will jemand unbedingt an das Grabtuch rankommen. Die Brände sind nur dazu da, um die Polizei auf die falsche Fährte zu locken. Irgendjemand will in den Besitz des Grabtuches gelangen.«
Sofia hörte interessiert zu. Sie waren zu demselben Ergebnis gekommen.
»Wir müssen in der Vergangenheit suchen. Jemand will es zurückhaben«, sagte Ana.
»Jemand aus der Vergangenheit?«
»Jemand, der mit der Vergangenheit zu tun hat.«
»Und wie kommen Sie zu diesem Schluss?«
»Ich weiß es nicht, es ist ein Gefühl. Ich habe viele Theorien, eine verrückter als die andere, aber …«
»Ja, ich habe Ihren Bericht gelesen.«
»Und, was halten Sie davon?«
»Sie haben viel Phantasie, zweifellos Talent und vielleicht sogar Recht.«
»Ich denke, Pater Yves weiß mehr über das Grabtuch, als er zugibt.«
»Warum sagen Sie das?«
»Weil er so perfekt, so korrekt, so durchsichtig ist. Ich habe das Gefühl, er verbirgt etwas. Und er ist schön, sehr schön, finden Sie nicht?«
»Ja, er ist wirklich ein attraktiver Mann. Wie haben Sie ihn kennen gelernt?«
»Ich habe beim Bistum angerufen, erklärt, dass ich Journalistin bin und eine Geschichte des Grabtuchs verfassen will. Da ist eine ältere Dame, die kümmert sich um die Presseangelegenheiten. Zwei Stunden lang hat sie heruntergeleiert, was in den Touristenführern über das Grabtuch Christi steht, und dann hat sie mir eine Geschichtsstunde über das Haus Savoyen erteilt. Gelangweilt bin ich wieder gegangen. Die gute Frau war nicht die geeignete Person, um auf eine Spur zu kommen. Ich habe noch einmal angerufen und wollte mit dem Kardinal sprechen. Man fragte mich, wer ich sei und was ich wolle. Ich betete wieder mein Sprüchlein herunter, sagte, dass ich
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