Die stumme Bruderschaft
deine Härte ist die Rache dafür, dass du jemand bist, der du nie sein wolltest.«
Sie sahen sich schweigend an. Guner dachte, dass er mehr gesagt hatte, als er eigentlich wollte, und Addaio wunderte sich, dass er sich schon wieder ohne zu protestieren Guners Vorwürfe angehört hatte. Ihre Leben waren untrennbar miteinander verflochten, und keiner von beiden war glücklich.
Ob Guner fähig wäre, ihn zu verraten? Er verwarf den Gedanken sofort. Nein, das würde er nie tun. Er vertraute Guner, wem, wenn nicht ihm.
»Richte mir das Gepäck für morgen.«
Guner gab keine Antwort. Er drehte sich um und machte sich an den Fenstern zu schaffen. Sein Kiefer schmerzte vor Anspannung. Er atmete tief durch, als er die Tür leise hinter Addaio ins Schloss fallen hörte.
Auf dem Boden neben Addaios Bett lag ein Blatt Papier. Er bückte sich und hob es auf. Es war ein auf Türkisch geschriebener Brief. Gelegentlich gab Addaio ihm Briefe und Dokumente zum Lesen und fragte ihn nach seiner Meinung. Er wusste, dass nicht richtig war, was er da tat, aber er kam nicht gegen sich an, er musste wissen, was in dem Brief stand.
Der Brief trug keine Unterschrift. Der Schreiber teilte Addaio mit, der Sicherheitsausschuss von Turin werde über Mendibjs Entlassung entscheiden, und er bitte um Instruktionen, was zu tun sei, wenn Mendibj freikäme.
Er fragte sich, warum Addaio einen so wichtigen Brief nicht weggeschlossen hatte. Wollte er, dass er ihn fand? Hielt er ihn für den Verräter?
Mit dem Brief in der Hand ging er in Addaios Büro. Er klopfte leise an die Tür und wartete, dass der Hirte ihn aufforderte, einzutreten.
»Addaio, dieser Brief lag neben deinem Bett.«
Der Hirte sah ihn ungerührt an und streckte die Hand aus.
»Ich habe ihn gelesen. Ich denke, du hast ihn absichtlich dahingelegt, damit ich ihn finde, du wolltest mir eine Falle stellen, um zu sehen, ob ich der Verräter bin. Nein, ich bin es nicht. Tausendmal habe ich mir gesagt, ich sollte gehen und der Welt da draußen sagen, wer wir sind und was wir tun. Aber ich habe es nicht getan, und ich werde es auch nicht tun – dem Andenken meiner Mutter zuliebe und damit meine Familie erhobenen Hauptes durch das Leben gehen kann und meine Nichten und Neffen es besser haben als ich. Ich bleibe ihretwegen und meinetwegen. Ich bin ein armer Mann und zu alt, um ein neues Leben anzufangen. Ich bin ein Feigling wie du. Wir beide haben dieses Schicksal angenommen.«
Addaio sah Guner schweigend an und versuchte, an seinem Gesicht irgendeine Regung abzulesen, etwas, das zeigte, dass er ihn immer noch gern hatte.
»Jetzt weiß ich, warum du morgen aufbrichst. Du hast Angst, dass Mendibj etwas zustoßen könnte. Hast du es seinem Vater gesagt?«
»Jetzt, wo du so sicher bist, dass du mich nicht verraten wirst, werde ich es dir sagen: Ja, es macht mir Sorgen, dass sie Mendibj freilassen. Wenn du den Brief gelesen hast, weißt du, dass unser Kontaktmann im Gefängnis den Chef des Dezernats für Kunstdelikte einmal bei Mendibj gesehen hat, und er hat auch den Verdacht geäußert, dass der Gefängnisdirektor irgendetwas plant. Wir dürfen kein Risiko eingehen.«
»Was willst du tun?«
»Was zum Überleben unserer Gemeinschaft notwendig ist.«
»Sogar Mendibj töten?«
»Wer ist zu diesem Schluss gekommen, du oder ich?«
»Ich kenne dich gut, und ich weiß, wozu du fähig bist.«
»Du bist der einzige Freund, den ich je hatte. Ich habe nie etwas vor dir verborgen, du kennst alle Geheimnisse unserer Gemeinschaft, aber ich merke, dass du mir nicht im Geringsten zugetan bist, es nie warst.«
»Du irrst dich, Addaio. Du warst immer gut zu mir, seit dem ersten Tag, an dem ich als Zehnjähriger in dein Haus kam. Du wusstest, wie mir zumute war, weil ich mich von meinen Eltern trennen musste, und du hast alles getan, damit ich sie oft besuchen konnte. Ich werde nie vergessen, wie du mich nach Hause begleitet und dir selbst die Zeit damit vertrieben hast, über die Felder zu laufen, damit ich den Nachmittag mit meinen Eltern für mich hatte. Ich kann dir in deinem Verhalten mir gegenüber nichts vorwerfen. Ich werfe dir dein Verhalten gegenüber der Welt und der Gemeinschaft vor, den riesigen Schmerz, den du bewirkst. Wenn du wissen willst, ob ich dir zugetan bin, dann lautet die Antwort … Ja, aber ich muss dir gestehen, dass ich manchmal eine tiefe Abneigung gegen dich hege, weil ich an dein Schicksal gekettet bin. Aber ich werde dich nie verraten, wenn es das ist, was dich
Weitere Kostenlose Bücher