Die Stunde der Schwestern
Nähen und Bügeln hörte. Es war Etienne, der Denise hier in Florenz von dem italienischen Komponisten Giacomo Puccini erzählte, dessen Arien diese junge Frau mit schmelzender Stimme sang, was von den Touristen mit reichlich Münzen belohnt wurde.
Denise streckte sich auf dem breiten Bett, dem
matrimoniale,
aus und ließ sich von der Musik in eine Melancholie versetzen, die ihr Unglück noch verstärkte. Sie war vor dem gleißenden Licht des heißen Nachmittags in die Kühle des Zimmers geflohen, hatte Etienne allein mit den Schwestern Emily und Florence Parry in die Uffizien gehen lassen. Etienne war erleichtert gewesen, als sie Kopfschmerzen vorgab und in der Pension blieb. Schon nach wenigen Tagen hatte Denise erkannt, dass sich Etienne seiner ungebildeten Frau schämte. Sie konnte seine Erwartungen nicht erfüllen.
Aber auch sie fühlte sich um eine romantische Hochzeitsreise betrogen. Die lange Zugfahrt in der ersten Klasse hatte sie noch genossen, aber dann war ihre Enttäuschung groß gewesen, als Etienne sie nicht in ein schönes Hotel, sondern in eine Pension führte.
»Die Lage könnte nicht besser sein, direkt an der Piazza della Signoria«, hatte er seine Wahl gerechtfertigt, während sie in einem schmalen Haus aus der Renaissance in einen wackligen Aufzug stiegen und in den zweiten Stock rumpelten. Dort befand sich die Pension Michelangelo der Signora Maria Sardi, einer Witwe, die ihren Mann bereits in den ersten Tagen des Kriegs verloren hatte. »Er ist für den Duce gestorben«, erklärte sie den Eheleuten Aubry, als sie sie in ihr Zimmer geleitete. Der Raum war hoch, die Wände dunkel gestrichen, und an der Decke konnte man Reste alter Freskenmalereien erkennen. Die beiden Fenster gingen auf die Piazza hinaus, mit dem Blick auf Michelangelos Statue des David. »Eine Kopie«, hatte Etienne seine junge Frau belehrt. »Das Original steht in der Accademia di Belle Arti.«
»Aha.« Das war Denise’ uninteressierte Antwort gewesen. Sie kannte Michelangelo nicht, genauso wenig, wie sie von dem Maler Botticelli gehört hatte, dessen Bilder sie bereits am ersten Tag in den Uffizien bewundern musste. Ihr war so übel gewesen, denn vor dem Eingang zu den Uffizien mussten sie über eine Stunde in der Sonne anstehen.
An diesem Abend wurden die Aubrys den anderen Gästen vorgestellt. Sehr schnell hatte Denise erkannt, dass sie hier fehl am Platz war. Die insgesamt zehn Gäste der Signora Sardi besuchten jedes Jahr um diese Zeit Florenz, um »sich den Kunstgenüssen dieser wunderbaren Stadt hinzugeben«, wie Signora Sardi erklärte. Außer einem Pater aus Rom kamen alle anderen Gäste aus England. Etienne saß Denise am Esstisch gegenüber und unterhielt sich mit den Schwestern Parry in einem Englisch, das sogar in Denise’ Ohren schauderhaft klang, obwohl sie die Sprache nicht beherrschte. Manchmal kommentierte eine der beiden Schwestern aus London kichernd Etiennes Bemerkungen mit:
»Nice, o, so nice, Mister Aubry.«
Denise konnte die beiden älteren Frauen vom ersten Moment an nicht leiden, denn ihr offensichtliches Interesse an dem gebildeten Mister Aubry grenzte seine schwangere Ehefrau klar aus.
Der schön gedeckte Tisch, geschmückt mit Blumen und einem Kerzenleuchter, die blütenweißen Stoffservietten und das Silberbesteck schüchterten Denise ein, und so war sie dankbar für Etiennes Vorschlag, sie solle auf dem Zimmer bleiben und dort ein leichtes Essen einnehmen. Signora Sardi hatte volles Verständnis für die blasse schwangere Frau und ließ ihr jeden Abend eine besondere Mahlzeit servieren. Denise war erleichtert. Sie liebte diese ausgedehnten Abendstunden, die Etienne mit den englischen Schwestern verbrachte, den alten Jungfern, wie Denise sie in Gedanken boshaft titulierte. Anschließend tranken die drei noch einen Verdauungskräutertee im Aufenthaltsraum. Wenn Etienne dann ins Zimmer kam, war Denise meist schon eingeschlafen.
Die Tage jedoch vergingen nur schleppend. Denise konnte den Museumsbesuchen nichts abgewinnen, und die Stadtbesichtigungen langweilten sie. Einmal ging Etienne mit ihr in eine Trattoria in der Via Rosina, in der es lebendig und laut zuging. Sie aß dort wunderbare Spaghetti, ohne dass jemand ihre Tischmanieren missbilligend zur Kenntnis nahm. Auch der Ponte Vecchio mit den vielen kleinen Schmuckständen hatte ihr gefallen. Leider kaufte Etienne nichts für sie, und sie musste erkennen, dass ihr wohlhabender Mann schlichtweg geizig war. Er gab nie Trinkgeld, wenn sie
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