Die Stunde der Schwestern
bösartig in eine Falle gelockt, in die ihr harmloser Sohn hineingetappt war.
Während Marguerite in der Küche ein spätes Mittagessen vorbereitete, quälte sich Denise mühsam aus dem Bett. Schon beim Waschen spürte sie ein leichtes Ziehen im Rücken, doch sie achtete nicht weiter darauf. Sie wollte endlich ihre Mutter besuchen und ihr Fotos von Florenz zeigen. Zu erzählen gab es ja wenig. Denise zog ihr weißes Batistkleid an, das am Saum und an den Ärmeln einen Spitzenbesatz hatte, fuhr sich mit der Bürste durch die Haare und ging ins Erdgeschoss hinunter. Die Tür zur Apotheke war geschlossen, und Denise war froh darüber. Es bedeutete, dass Etienne Kunden hatte und sie ihm nicht begegnen würde. Ihr war ein wenig schwindlig, als sie die Küche betrat, in der Marguerite mit dem Rücken zu ihr vor der Anrichte stand. Als sie ihre Schwiegertochter kommen hörte, drehte sie sich um und wies mit einem Messer auf den Tisch.
»Hier, du kannst mir helfen. Ich zeige dir, wie man ein Kaninchen häutet. Das ist eines von Etiennes Lieblingsgerichten, Kaninchen in Weißweinsauce mit …«
Mit was Etienne das Kaninchen gerne aß, hörte Denise nicht mehr. Der Anblick des toten Tieres, dessen starrer Blick direkt auf sie gerichtet schien, war zu viel für sie. Sie erbrach sich auf den Küchenboden und konnte sich gerade noch an der Tischkante festhalten, bevor sie fast ohnmächtig auf dem Boden zusammenbrach.
Eine Stunde später saß Denise bei ihrer Mutter und erzählte ihr von dem Kaninchen. »Marguerite wollte Blandine häuten«, klagte sie.
Joselle schüttelte verständnislos den Kopf. »Was redest du für einen Unsinn! Du bist überreizt, Kind, dein Kaninchen Blandine ist schon lange tot, und wir haben es doch selbst im Vorgarten begraben. Damals warst du zwölf Jahre alt.«
»Das weiß ich doch«, antwortete Denise eigensinnig und immer noch den Tränen nahe. »Aber dieses tote Kaninchen sah aus wie Blandine.«
»Deine Schwangerschaft macht dich überempfindlich«, wusste Joselle als Einziges zu sagen, während sie in dem dampfig heißen Raum verbissen weiterbügelte.
Denise hatte sich mehr Mitgefühl von ihrer Mutter erwartet, sie wollte hören, wie schwer ihr Leben im Apothekerhaus sei, sie wollte Mitleid und die uneingeschränkte Zuwendung ihrer Mutter.
»Marguerite hasst mich«, brach es aus ihr hervor. »Sie hat mich gezwungen, den Boden aufzuwischen, und gesagt, ich käme in Zukunft nicht ums Häuten herum. Ich will nicht mehr in das Haus zurück.«
Joselle erschrak und hielt inne. »Das geht nicht, du bist verheiratet. Was würden die Leute sagen? Das gäbe einen Skandal. Es wird sich schon alles finden«, fügte sie rasch hinzu und versuchte damit, Denise zu trösten.
»Etienne sagt, ich sei so ungebildet. Ich weiß, dass er mich deswegen verachtet. Warum durfte ich nicht aufs
Lycée des jeunes filles
gehen wie Fleur?«
Joselle wurde ungeduldig. »Weil du nicht gewollt hast. Darum. Du hast dich für nichts interessiert, und schon in der Grundschule waren deine Noten schlecht. Du wolltest ja gar nicht aufs Lyzeum. Aber du hast schon als Kind gerne genäht und gestickt. Darum habe ich dich nach der Grundschule eine Schneiderlehre machen lassen. Das hat dir doch auch gefallen.« Joselle hatte das Gefühl, ihre damalige Entscheidung rechtfertigen zu müssen.
Denise aber hörte nicht auf zu klagen. Sie war zu ihrer Mutter gekommen, um bemitleidet zu werden, und so setzte sie noch nach: »Fleur hatte auf dem Lyzeum ein schönes Leben, während ich den ganzen Tag in einer heißen, stickigen Schneiderei nähen musste.«
Joselle stellte ihr Bügeleisen mit einer heftigen Bewegung auf das Drahtgestell. »Was willst du eigentlich, Denise?«, fuhr sie ihre Tochter an. »Ich habe mein ganzes Leben in einer ›heißen, stickigen Schneiderei‹ verbracht, um euch zu ernähren. Ich weiß, ich war dir als Mutter nicht gut genug, du hast mir sogar die Schuld gegeben, dass euer Vater uns verlassen hat.« Joselles Stimme wurde lauter. »Du hast immer gesagt, du willst nicht so leben wie ich, in der Werkstatt würde man über mich verächtlich reden. Hast du das alles vergessen? Und«, setzte Joselle, wieder ruhiger geworden, hinzu, »du hast immer einen reichen Mann heiraten wollen, das war dein Ziel. Wenn ich es mir recht überlege, hast du schon vor vier Jahren versucht, dir Etienne zu angeln. Das war zu der Zeit, als er anfing, sich für Fleur zu interessieren, ihr unentwegt nachstellte und ihr täglich
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