Die Stunde der Schwestern
nehmen und ihr vorzugaukeln, dass auch sie sich glücklich fühlte, wenn nur ihre Tochter es war.
Die Türen wurden geschlossen, und Fleur beugte sich weit aus dem Fenster und winkte mit dem Tuch, bis ihr der Arm seltsam schwer wurde und sie ihn sinken ließ. »Maman«, flüsterte sie noch einmal, als der Zug den Bahnhof verlassen hatte und sie Joselle in der Gruppe winkender Menschen nicht mehr erkennen konnte.
*
Denise hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, als sie Etiennes Haus betrat und sich in den dunkel getäfelten Räumen umsah. Dicke Perserteppiche schluckten jedes Geräusch, und während sie mit Etienne die breite Treppe zum Schlafzimmer emporstieg, hielt sie sich krampfhaft an dem Geländer fest. Sie spürte seine Nähe auf eine quälende Weise und verlangsamte mit jeder Stufe ihre Schritte. Sie wusste, dass Etienne sie nur geheiratet hatte, weil sie schwanger geworden war. Jeder in der Stadt wusste es, und das war das Beschämende. Er war in ihre Schwester verliebt gewesen. Einmal hatte Fleur seinem ständigen Drängen nachgegeben und sich mit ihm verabredet. Sie wollte ihm dabei klarmachen, er solle mit den ewigen Nachstellungen aufhören, sie könne ihn nicht leiden. Doch Fleur vergaß die Verabredung und fuhr mit einer Freundin nach Marseille. Als Etienne mit einem großen Blumenstrauß vor der Tür stand, bot sich Denise als Ersatz an, und Etienne ging mit ihr in das schöne Restaurant, das er für sein erstes Rendezvous mit Fleur ausgesucht hatte. Denise schürte seine tiefe Enttäuschung und gab sich verständnisvoll, nannte das Benehmen ihrer Schwester rücksichtslos und egoistisch. Und sie hörte ihm zu. Diesem Mittagessen folgten Spaziergänge in den Lavendelfeldern und kleinere Ausflüge in die Umgebung. Denise machte sich immer sorgfältig zurecht und versuchte, sich mit der Brennschere Locken zu drehen, wie Fleur sie von Natur aus hatte. Sie kopierte mit ihrer Kleidung Fleurs unnachahmliche Eleganz und betonte in jeder Hinsicht ihre Ähnlichkeit mit der Schwester. Sie wusste, dass sie Etienne nicht besonders gefiel, doch sie war geduldig, und so schüttete der einsame Junggeselle ihr sein Herz aus. Er erzählte von seiner Liebe zu Fleur, wie sie angeblich mit ihm spiele und ihn hinhalte, bis Denise ihm geschickt zu verstehen gab, dass Fleur kein Interesse an ihm habe. Ihre Schwester wolle nach Paris, erklärte sie, griff nach Etiennes Hand und drückte sie mitfühlend. Vielleicht war das der Moment gewesen, in dem Etienne Denise zum ersten Mal wirklich wahrnahm, vielleicht auch endlich die Ähnlichkeit mit Fleur bei ihr entdeckt hatte. Denise besaß nicht die zarte Schönheit, die dunklen, vollen Locken und die schmale Taille von Fleur. Aber sie hatte die gleiche Haarfarbe und die ovale Form von Fleurs Gesicht. An diesem Nachmittag erkannte Etienne die Aussichtslosigkeit seiner Liebe.
Fleur hätte die erste Frau in seinem Leben sein sollen. Jahrelang hatte er auf den Moment gewartet, ihr endlich seine Liebe zu gestehen, doch niemals hatte er gedacht, dass sie ihn abweisen könnte. Zunächst hatte er in ihrer konsequenten Ablehnung mädchenhafte Schüchternheit gesehen, denn letztendlich war sie nur die Tochter einer kleinen Schneiderin, deren Mann vor Jahren das Weite gesucht hatte. Wieso sollte sie ihn also abweisen?
Aber Denise öffnete ihm die Augen. Voller Verständnis machte sie ihm klar, dass Fleur andere Pläne habe, die nie, aber auch wirklich niemals ein Leben an Etiennes Seite in Saint-Emile beinhalteten. Denise brachte ihm Güte und Verständnis entgegen und sah Fleur sogar ein wenig ähnlich, und so kamen sie sich schließlich bei einem Abendspaziergang im Mondschein näher. Er ließ es zu, dass Denise sanft seine Hand nahm und sie in den Ausschnitt ihrer Bluse legte. Zum ersten Mal umschlossen seine Finger eine warme weibliche Brust, und so kam eines zum anderen. Sie trafen sich immer heimlich, denn Etienne dachte keinesfalls an eine Heirat mit Joselle Déschartes’ anderer Tochter Denise. Dann aber kam die Eröffnung, die ihn fast zerschmetterte: Denise war schwanger.
Die Leute in Saint-Emile tuschelten bereits über ihn und die Tochter der Schneiderin, und seine Mutter stellte ihn zur Rede. Er war ein Ehrenmann, und so bat er eines Sonntagvormittags Joselle um die Hand ihrer Tochter Denise. Joselle dachte zuerst, sich verhört zu haben. Wieso Denise, liebte er denn nicht Fleur?
Auch an diesem Tag, dem Tag der Hochzeit, wollte das Getuschel nicht verstummen, Etienne
Weitere Kostenlose Bücher