Die Stunde der Schwestern
gelungen.«
Denise verstand nicht, was er damit sagen wollte. Nachts hatten sie nebeneinander gelegen, jeder auf seiner Seite des breiten Bettes, und Denise war erleichtert gewesen, dass Etienne nie versucht hatte, sich ihr zu nähern.
»Ich meine nicht das Körperliche«, fuhr Etienne fort und räusperte sich. »Während deiner Schwangerschaft würde ich dich niemals anrühren. Ich meine, seelisch, geistig. Doch du verschließt dich und lebst so ganz für dich. Eine Ehe sollte anders sein, man muss sich verstehen, das habe ich dir schon am Abend unserer Hochzeit gesagt. Ich bemühe mich, Denise, obwohl ich dich nicht liebe. Ich habe dich geheiratet und kann Erwartungen an dich stellen, die du erfüllen musst.«
»Was meinst du damit?«, flüsterte Denise.
»Du musst lernen, Denise, lernen«, betonte er. »Du bist so ungebildet, hast von nichts eine Ahnung. Du weißt einfach nichts. In deinem Hirn scheint absolute Leere zu herrschen.« Als Denise schwieg, fuhr er fort: »Du kannst Kontakt zu deiner Mutter halten, doch ich möchte, dass du begreifst, in welcher Beschränktheit du und deine Schwester aufgewachsen seid. Ich will, dass du dich bildest, Bücher liest, die ich dir gebe, dich so kleidest, wie ich es von meiner Frau erwarten kann. Auch musst du lernen, wie man einen perfekten Haushalt führt. Und deswegen«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, »werde ich meine Mutter bitten, noch bei uns wohnen zu bleiben, bis sie dir all das beigebracht hat, was ich an ihr so bewundere.«
Denise erschrak zutiefst. Sie hatte sich vorgestellt, dass nach der Hochzeit ihr gutes Leben beginnen würde, in einem großen Haus als geachtete Ehefrau Etiennes, die Besuche empfing und ein Hausmädchen hatte. Ihre Schwiegermutter war in ihren Träumen nicht vorgekommen.
»Vor allem musst du kochen lernen.« Etiennes Stimme klang ruhig und bestimmt. »Von meiner Mutter kannst du alles lernen, was du als meine Frau beherrschen sollst.« Etienne erhob sich. Für ihn war alles gesagt, und er zweifelte keinen Moment daran, dass sich Denise fügen würde. »Ich gehe jetzt zum Abendessen, bleibe aber nicht lange. Unser Zug fährt morgen früh um sieben Uhr.«
Nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte, verkroch sich Denise im Bett und zog die seidene Steppdecke bis zum Kinn. So lag sie auch noch, als das Hausmädchen klopfte und ihr auf einem Tablett Salat, Käse, Salami und Weißbrot brachte. Das hatte sich Denise für den letzten Abend gewünscht, doch sie verspürte keinen Hunger und blieb reglos liegen, das Tablett neben sich. Sie starrte hinauf zur Decke mit dem verblichenen Gemälde zweier Engel, die, verbunden mit einem breiten flatternden Band, auf das Bett herunterlächelten. Denise kam es vor, als grinsten sie höhnisch und als wüssten sie, dass sie Etienne hereingelegt hatte, um ein gutes Leben zu führen, heute aber ihre gerechte Strafe erhalten hatte.
»Mi chiamano Mimi …«,
klang es von der Piazza herauf.
*
Zurück in Saint-Emile
Jeden Morgen, bevor Etienne in die Apotheke hinunterging, brachte er Denise das Frühstück ans Bett: Kräutertee, Eisentabletten, dunkles Brot, Butter, Honig und Obst. Er sah ihr zu, wie sie lustlos herumkaute und die Vitamintabletten schluckte. Dazwischen musste sie ihm über das Buch berichten, das sie gerade las.
Bereits am Tag nach ihrer Rückkehr aus Florenz hatte ihr Etienne einen Roman des berühmten Schriftstellers Gustave Flaubert übergeben. Sie sollte
Madame Bovary
lesen und jeden Morgen mit ihm darüber sprechen. Denise quälte sich durch die ersten Kapitel des Buches, dem sie nichts abgewinnen konnte und das so tragisch endete. Es dauerte nicht lange, und Etienne gab aus Ungeduld und Resignation die morgendliche Abfragestunde wieder auf. Für ihn war Denise ein hoffnungsloser Fall.
Denise blieb lange im Bett liegen. Auch von ihrer Schwiegermutter wurde sie nicht gestört. Marguerite Aubry hatte wenig Lust, ihrer ungeliebten Schwiegertochter Kochen und Haushaltsführung beizubringen. Sie wollte nur eines: in dem Haus bleiben, das sie vor siebenundvierzig Jahren am Tag ihrer Hochzeit betreten hatte. Hier hatte sie ihren einzigen Sohn geboren, und hier war vor dreißig Jahren auch ihr Mann gestorben. Marguerite war immer für Etienne da gewesen, und das sollte auch so bleiben. Und je weniger ihre Schwiegertochter verstand, desto unentbehrlicher wurde Marguerite für ihren geliebten Sohn. Für Denise hatte sie nur Verachtung übrig. Das Mädchen hatte Etienne
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