Die Stunde der Schwestern
liebe eigentlich Fleur. Während Denise jetzt vor Etienne die Treppe hinaufstieg und sich scheu umsah, erkannte sie schlagartig die Bescheidenheit und Ärmlichkeit, in der sie aufgewachsen war. Die ständige Unordnung, die Enge der Zimmer, in denen Stoffrollen an den Wänden lehnten und Schachteln mit Knöpfen und Bändern den Weg versperrten. Fast konnte sie Etiennes Mutter verstehen, die aus ihrem Unmut über die unscheinbare Schwiegertochter aus kleinsten Verhältnissen keinen Hehl gemacht hatte.
Etienne griff an ihr vorbei und öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Auch hier waren die Wände mit dunklem Holz getäfelt, und die schweren Samtvorhänge in braungrüner Farbe vermittelten einen beklemmenden Eindruck.
»Schließ die Tür und setz dich! Ich habe mit dir zu reden«, sagte Etienne ruhig, und Denise folgte sofort seiner Anweisung. Sie ließ sich auf der Kante des Bettes nieder, in dem sie ab jetzt ihre Nächte mit ihm verbringen würde, und drehte nervös ihren schmalen Ehering, den ein kleiner Rubin zierte. Etienne rückte sich den einzigen Sessel zurecht und ließ sich in die weichen Polster fallen.
»Denise«, begann er und machte eine Pause.
»Ja?« Die junge Frau sah hoch und schaute ihn an. Etiennes Rücken war leicht gekrümmt, und über der breiten Stirn war das dünne Haar sorgfältig nach hinten gekämmt. Seine blauen Augen blickten sie streng an, und Denise empfand zum ersten Mal fast Zuneigung für diesen Mann, der mit zweiundvierzig Jahren ältlich und ein wenig absonderlich wirkte, wie sie es in Gedanken formulierte. Sie mochte nicht an jenen ersten Abend denken, als Etienne sie ungeschickt umarmte und sie entjungferte, auch nicht an seine weiteren Umarmungen in den folgenden Wochen. Aber schließlich wusste sie aus Andeutungen ihrer Mutter, dass keine Frau »an diesen Dingen« Spaß oder Freude hatte.
»Denise«, setzte Etienne noch einmal an, »wir beide wissen, welche der Schwestern Déschartes ich liebe. Aber nun bist
du
schwanger, und durch meine Heirat mit dir stehe ich zu meiner Verantwortung. Auch ich möchte eine Familie und Kinder haben. Du bist fleißig, und du wirst lernen, den Haushalt vorbildlich zu führen und mir eine treue und ergebene Ehefrau zu sein. Wenn du dazu bereit bist, werden wir gut miteinander auskommen. Ich gebe dir das, was du wolltest: ein gutsituiertes Leben an der Seite eines geachteten, wohlhabenden Mannes. Dem wirst du Rechnung tragen müssen. Tust du das nicht, werden sich unsere Wege sehr bald trennen. Ansonsten können wir zusammen ein gutes Leben führen. Willst du das?«
Denise konnte nicht sprechen, ihre Brust hob und senkte sich, ihr Atem ging rasch, und eine tiefe Röte überzog ihr Gesicht. Sie sah auf ihre Füße hinunter, die in teuren weißen Satinschuhen steckten. Noch nie hatte sie solche Schuhe besessen. Sie hatte einen angesehenen, reichen Mann heiraten wollen, sie hatte sich ein Kind gewünscht, sie hatte beides bekommen. Das Gefühl des Glücks stellte sich dennoch nicht ein. Sie hatte den Mann haben wollen, der Fleur liebte, sie hatte ihn ihrer Schwester wegnehmen wollen, hatte Siegerin sein wollen in einem ungleichen Wettbewerb.
Doch in diesem Moment begriff Denise: Sie war nicht die Siegerin, sie hatte sich mit dem begnügen müssen, was ihre Schwester verschmäht hatte. Wie immer hatte sie gegen Fleur verloren.
Denise ballte die Hände zu Fäusten. Sie hörte nicht mehr darauf, was Etienne noch über die Pflichten sagte, die auf sie zukamen. Eines Tages, schwor sie sich, eines Tages, Fleur, werde ich die Siegerin sein. Und Denise wusste, dieser Tag würde kommen.
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5
Juni 1957
Florenz
O mio babbino caro – Väterchen teures höre …« Schmeichelnde Töne aus Puccinis Oper Gianni Schicchi drangen durch das offene Fenster von der Straße herauf. Denise lag im abgedunkelten Zimmer der Pension Michelangelo und lauschte auf die Stimme der jungen Sängerin. Jeden Abend erschien sie um sechs Uhr in Begleitung eines Geigers auf dem Platz und sang aus Opern von Puccini. Ihr Repertoire umfasste fünf Arien. Wenn die letzten Töne der fünften Arie, die der Mimi aus La Bohème, »Mi chiamano Mimi«, verklungen waren, fing sie von vorne an: »O mio babbino caro.« Die beiden jungen Leute standen direkt unter den Fenstern der Pension und verließen die Piazza della Signoria gegen neun Uhr Abends wieder. Denise war mit Opernmusik nicht vertraut, sie erinnerte sich nur an die amerikanischen Schlager, die ihre Mutter Joselle beim
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