Die Stunde der Schwestern
anderen Kurse waren bereits ausgebucht, aber das verschwieg sie.
Joselle ließ nicht locker. »Warum ausgerechnet diese Sprache? Es ist noch gar nicht so lange her, dass die Deutschen in Frankreich einmarschiert sind und …«
»Maman, der Krieg ist seit zwölf Jahren vorbei«, protestierte ihre Tochter unkonzentriert. Fleur hatte Schuldgefühle, denn ihre Mutter kannte nur die halbe Wahrheit. Vormittags wollte sie schon die Schule besuchen, doch sie hatte noch andere Pläne.
In Paris fing das Leben an, und sie wollte ein Teil davon werden. Paris, das war Dior, der zehn Jahre zuvor seine beispiellose Karriere begonnen hatte, als er mit der Ligne Corolle, dem New Look, eine Sensation ausgelöst hatte. Paris bedeutete Balenciaga mit seinen großen Abendroben sowie Elsa Schiaparelli und ihrem extravaganten Stil. Paris, das war das Herz der Welt, und es schlug zwischen der Place Vendôme und der Avenue Montaigne.
»Aber in den Ferien kommst du nach Hause?«, drängte Joselle auf ein Versprechen. Als Fleur zögerte, redete sie hastig weiter: »Wenn es dir auf der Schule nicht gefällt, kannst du jederzeit bei mir in der Schneiderei anfangen, sie auch übernehmen, wenn ich einmal nicht mehr bin.«
Jetzt wandte sich Fleur ganz ihrer Mutter zu. Joselle Déschartes war eine füllige Frau mit hellem Teint und gekräuselten grauen Haaren, die sie mit Kämmen achtlos hochsteckte. Auf ihrem Gesicht lag der enttäuschte verhärmte Ausdruck einer Frau, die nie von einem Mann wirklich geliebt worden war und die wusste, dass sich das nicht mehr ändern würde.
»Vielleicht komme ich im August«, beantwortete Fleur zögernd Joselles Frage.
»Beide Töchter verlassen mich«, klagte Joselle. »Wie soll es mit mir und dem Salon weitergehen? Ich werde nicht jünger, und meine Kundinnen bleiben vielleicht weg, wenn sie die Stickereien von Denise vermissen. Du weißt, wie begabt deine Schwester darin ist.«
Fleur unterdrückte ein kleines Lächeln, wenn sie an die »Damen der Gesellschaft« in der kleinen Provinzstadt dachte und an die »Entwürfe« ihrer Mutter, die sie Kleidern aus den Modejournalen nachempfand. Nur die Stickereien von Denise waren außergewöhnlich schön und phantasievoll.
»Wenn Denise weiterhin arbeiten will, kann sie das doch«, meinte Fleur.
»Aber nein«, protestierte Joselle rasch. »Denise soll ihre Ehe nicht aufs Spiel setzen. Etienne will nicht, dass seine Frau arbeitet. Die Leute würden anfangen zu reden, wenn Denise in der Schneiderei ihrer Mutter sticken würde.«
»Etienne Aubry ist ein borniertes Muttersöhnchen, und das mit zweiundvierzig«, erklärte Fleur spöttisch. »Denise hat ihre Ausbildung als Stickerin mit Auszeichnung abgeschlossen, sie liebt ihren Beruf, und jetzt darf sie ihn nicht mehr ausüben, nur weil dieser Langweiler es nicht will.«
Joselle rang nach Atem. »Wie kannst du so über deinen Schwager reden! Etienne gehört zur guten Gesellschaft. Im Übrigen will Denise gar nicht mehr arbeiten. Sie genießt ihren sozialen Aufstieg.«
»Maman, mach dich selbst nicht so klein!«, antwortete Fleur leise.
Joselle überhörte die Bemerkung und ereiferte sich:
»Glaub mir, mein Kind, wenn du einmal einen Mann liebst, wirst du seine Wünsche auch respektieren und dich unterordnen. Du bist nicht so stark, wie du denkst, ich kenne dich besser.«
Fleur reagierte nicht darauf, sie wollte im Moment des Abschieds keinen sinnlosen Streit beginnen. Sie wusste, wie stolz ihre Mutter auf die »gute Partie« ihrer Tochter war. Das verschaffte auch ihr mehr Ansehen bei den Kundinnen. Beide schwiegen, denn jetzt, so kurz vor der Trennung, brachten sie kein Wort über die Lippen.
Ich werde sie nicht mehr sehen – eine dunkle Ahnung stieg in Joselle hoch, nahm ihr den Atem und drückte ihr Herz zusammen. Als der Zug einfuhr, wischte sie sich verstohlen rasch mit der Hand übers Gesicht, um die Tränen vor ihrer Tochter zu verbergen.
Ein Gefühl von Schuld und schlechtem Gewissen ergriff Fleur, die die Verzweiflung ihrer Mutter spürte, während sie sich auf ein neues Leben in Paris freute.
»Ich komme in den Sommerferien«, versuchte sie ihre Mutter noch einmal zu trösten, doch Joselles Tränen flossen jetzt hemmungslos. Fleur umarmte sie hastig, stieg in den Zug und suchte in ihrer Tasche nach dem kleinen weißen Tuch, mit dem sie ihrer Mutter Lebewohl zuwinken wollte. Joselle reichte ihr schnell den Koffer durchs Fenster und versuchte, Fleur mit einem Lachen das schlechte Gewissen zu
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