Die Stunde der Schwestern
plume,
Je suis dans ma lit.«
Denise wagte kaum zu atmen, sie wünschte sich, dieser Moment solle ewig dauern, nie zu Ende gehen. Und eingehüllt in den leisen Gesang und die Liebe ihrer Mutter, vergaß sie, dass sie gar nicht schwanger war.
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10
Paris
G inette saß in ihrer Loge und beugte sich über eine aufgeschlagene Zeitung, die vor ihr auf dem Tisch lag.
Bekannter Chefarzt prügelt sich mit dem Modefotografen Georges Bonnet vor dem Hotel Ritz. Geht es um Fleur Déschartes?
Das Foto zeigte die beiden sich prügelnden Männer, die sich vor dem Eingang des Hotels auf dem Boden wälzten.
Alles, was Fleur macht, gerät außer Kontrolle und wird zu einer Katastrophe, dachte Ginette kopfschüttelnd und winkte durch ihr Fenster dem alten Ehepaar Dupont aus dem zweiten Stock freundlich zu. Die beiden blieben stehen und fragten nach Fleur Déschartes aus der Dachwohnung. Sie hatten vor Wochen die Paparazzo-Aufnahme von Fleur und dem Chefarzt und jetzt das neue Skandalfoto in der Zeitung gesehen. Ginette gab sich desinteressiert, doch als das Ehepaar das Haus verlassen hatte, zündete sie sich eine Zigarette zur Beruhigung an. Jeder fragte nach Fleur. Sie stand im Mittelpunkt des Interesses der anderen Mieter, und keiner verstand, warum das berühmte Starmannequin in der kleinen Dachwohnung hier in diesem Haus wohnte und nicht in einem Luxusappartement im achten Arrondissement. Nur Ginette wusste, dass Fleur ihre hohen Gagen in Haute-Couture-Kleidern angelegt hatte und keine großen Ersparnisse besaß. Nach Ansicht der Concierge hätte Fleur jeden Mann haben können, einen Herzog oder Rennfahrer oder einen der vielen Millionäre, die nach Paris kamen und sich hier die schönsten Mädchen aussuchten. Doch Fleur war eine Romantikerin. Sie hatte an die große Liebe geglaubt und wurde so grausam im Stich gelassen, als sie schwanger wurde. Und jetzt war auch noch ihre Mutter gestorben. Heute fuhr Fleur zur Beerdigung, und wenn sie sich nicht beeilte, verpasste sie noch ihren Zug.
»Na endlich«, murmelte Ginette, als der Aufzug im Erdgeschoss hielt und Fleur mit einem kleinen Koffer ausstieg. Fleur kam die zwei Stufen herunter, und als sie vor Ginette stand, umarmten sie sich, doch Fleur löste sich rasch.
»Ich muss mich beeilen.«
»
Salut
und alles Gute!« Ginette blieb an der offenen Haustür stehen und rief Fleur noch nach: »Pass auf dich auf!«
Fleur hörte sie nicht mehr. Sie hastete die Rue de Rennes entlang und blieb vor der Brasserie Lipp stehen. Auf der anderen Seite des Boulevard Saint-Germain-des-Prés drängelten sich die Leute auf der Terrasse des Deux Magots, um einen Platz an den kleinen Tischen zu ergattern. Fleur sah nur kurz hinüber zu den Menschen, die an diesem Abend lachten und sich amüsierten, während sie zum Begräbnis ihrer Mutter fuhr.
Sie öffnete die Tür des ersten Taxis am Stand vor der Brasserie. Ich fahre nach Hause, schoss es ihr durch den Kopf, als sie auf der Rückbank den kleinen Koffer neben sich verstaute. Das Zuhause, das sie seit drei Jahren mied. Während der Monate mit Patrice hatte Fleur jedes Gespür für Zeit und Realität verloren. Doch die Wirklichkeit holte sie jetzt ein. Ihr Zuhause war für immer verloren, jetzt, da ihre Mutter gestorben war.
*
Saint-Emile
Der Nachtzug aus Paris hatte Verspätung, und so verpasste Fleur in Marseille ihren Anschluss. Als sie endlich in Saint-Emile eintraf, war es bereits drei Uhr nachmittags. Aus Marseille hatte sie Denise ein Telegramm geschickt, doch als sie aus dem Zug stieg, erwartete sie niemand. Mit ihrem Koffer und einem Strauß Lilien, die sie in Marseille gekauft hatte, lief sie die Rue de la Gare entlang. Am Tag von Denise’ Hochzeit war sie zum letzten Mal hier gewesen. Diese Straße war sie mit ihrer Mutter entlanggegangen, und sie hatte ihr versprochen, im Juli nach Hause zu kommen. Sie hatte ihr Versprechen damals nicht gehalten, war nie mehr nach Saint-Emile gekommen und hatte auch den letzten Wunsch ihrer Mutter, sie noch einmal zu sehen, nicht erfüllt.
Fleur bog eilig in die Straße zum Friedhof ein, sicher wartete Denise dort auf sie. Doch vor dem großen Tor stand niemand. Fleur ging langsam den schmalen Kiesweg zum Grab der Familie Déschartes entlang. Ihre Schritte knirschten auf dem Kies. Sie legte die weißen Lilien auf das frische Grab, direkt neben einen großen, imposanten Kranz. Sie las die Schrift auf dem breiten weißen Band:
In ewigem Gedenken an meine geliebte Schwiegermutter Joselle
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