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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Maybach
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Kopie eines Modells von Givenchy, und Joselle hatte es noch zugeschnitten, bevor der Arzt ihr absolute Bettruhe verordnet hatte.
    Seit einer Woche verbrachte Denise die meiste Zeit bei Joselle. Der Zustand ihrer herzkranken Mutter verschlechterte sich dramatisch, und der Hausarzt hatte angedeutet, dass man mit dem Schlimmsten rechnen müsse. An Tagen, an denen der Mistral von Süden wehte, ging es Joselle besonders schlecht. Sie bekam keine Luft mehr, rang nach Atem und konnte auch nicht mehr an der Nähmaschine arbeiten. Denise hatte sie die ganze Nacht husten und keuchen hören, Joselles Atemnot verschlimmerte sich von Tag zu Tag.
    Rasch zog Denise ihren Mantel über und lief zur Boulangerie. Sicher würde ihre Mutter sich über frische Croissants freuen. Als sie zurückkam, ging sie auf Zehenspitzen die Wendeltreppe hinauf in die Wohnung, um in der Küche Kaffee zu kochen. Leise warf sie einen Blick in Joselles Zimmer, die endlich in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Erleichtert zog sich Denise in die Küche zurück und setzte sich an den kleinen Tisch, um zu frühstücken.
    Während sie aß, griff sie nach einer Ausgabe der
Vogue,
von deren Cover Fleur in die Kamera lächelte. Sie trug eine weiße Bluse mit roten Tupfen, ihr Lippenstift hatte die gleiche Farbe.
    Daneben lag ein altes Boulevardblatt mit einer groß aufgemachten Überschrift. Auf dem Foto saß Fleur mit einem Mann in einem Lokal, der sich zu ihr beugte und sie küsste.
Erwischt!,
stand darüber. Wie sehr musste ihre Mutter sich aufgeregt haben, als sie dieses Foto gesehen hatte. Denise wusste auch, wie tief enttäuscht Joselle war, dass Fleur sie nie besuchte. Sie lebte in Paris ein freies, ungebundenes Leben als berühmtes Starmannequin, verdiente viel Geld und nahm sich die Männer, wie sie wollte, während ihre Mutter einem langen, qualvollen Sterben entgegensah.
    Tiefer Neid auf Fleur ergriff Denise. Was für ein schönes, aufregendes Leben ihre Schwester hatte, während sie in einem düsteren großen Haus mit einem ungeliebten Mann und seiner Mutter ihre Tage verbrachte. Denise ertrug Etienne, sie ertrug Marguerite Aubry, sie ertrug das Leben in Saint-Emile. Sie vergaß, dass sie sich dieses Leben gewünscht, ja es mit einer Schwangerschaft erzwungen hatte. Vor ihrer Hochzeit hatte sie sich als strahlende Ehefrau an der Seite eines geachteten Mannes gesehen, im Kreis einer Familie mit mehreren glücklichen Kindern. Es war anders gekommen.
    Ein Gefühl von Kummer und Bedrückung verdrängte den Neid auf Fleur. Auch ein Gefühl von Schuld nistete sich in ihren Gedanken ein. Schuld zu sein, dass sie kein Kind austragen konnte. Denn zwei Monate zuvor hatte sie ihre dritte Fehlgeburt erlitten. Dieses Mal hatte sie das Kind bereits Anfang des dritten Monats verloren. Und mit jeder Fehlgeburt erkannte sie schmerzlicher, wie sehr sie sich ein Kind wünschte, nicht für Etienne, nicht für den Erhalt ihrer Ehe, sie wollte ein Kind, das zu ihr gehörte und dem sie ihre ganze Liebe schenken konnte. Tränen liefen ihr über die Wangen, wie so oft in letzter Zeit.
    »Denise?« Joselle rief mit schwacher Stimme nach ihr. Sofort hastete Denise ins Schlafzimmer. Ihre Mutter hatte sich aufgerichtet, sie atmete keuchend und umklammerte den gedrehten Bettpfosten, bis sie sich wieder auf die Kissen zurückfallen ließ.
    Die Vorhänge waren fest zugezogen, und die Lampe, die während der ganzen Nacht gebrannt hatte, leuchtete trüb und ließ die schweren, altmodischen Möbel noch beklemmender aussehen.
    »Ich mache dir Frühstück und warte dann noch, bis Madame Binet das Kleid abholt«, sagte Denise. »Doch dann muss ich leider gehen. Etienne möchte nicht, dass ich … dass seine Frau in der Schneiderei arbeitet«, fügte sie verlegen hinzu und vermied es, ihre Mutter anzusehen.
    »Natürlich. Er hat recht. Du bist die Frau eines geachteten Bürgers. Du gehörst zu ihm«, verteidigte Joselle, nach Atem ringend, ihren Schwiegersohn.
    Denise zog die Vorhänge auf und öffnete weit das Fenster. Frische Morgenluft strömte ins Zimmer und erleichterte Joselle für kurze Zeit das Atmen. Sie hielt die Augen geschlossen, bis Denise mit dem Frühstückstablett zurückkam.
    »Ich habe zwei Croissants für dich geholt, sie sind ganz frisch.« Denise stellte das Tablett vorsichtig aufs Bett, schenkte Joselle Kaffee ein und zerteilte ein Croissant. Dann zog sie sich den Stuhl heran, auf dem Joselles Morgenrock lag, schob ihn zur Seite und setzte sich dicht ans Bett. Doch

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