Die Stunde der Schwestern
weil ich Maman nicht mehr besucht habe, glaube mir!«
Denise lachte hart auf.
»Hat sie, ich meine«, fragte Fleur vorsichtig, »musste sie sehr leiden? Ich wusste nicht, dass sie so schwer krank war.«
»Sie hat es dir geschrieben.« Denise’ Reaktion war heftig. »Maman hat von ihrer Herzkrankheit erfahren, schon kurz bevor du damals Saint-Emile verlassen hast. Sie wollte dich nicht beunruhigen. Die Berichte in der Presse über dich waren auch nicht die beste Medizin, glaube mir! Sie hat sich geschämt für dich.« Denise’ Stimme wurde lauter. Sie konnte nicht mehr an sich halten. »Du hast Maman im Stich gelassen«, schrie sie ihrer Schwester ins Gesicht. Doch dann presste sie beide Hände auf den Mund und schwieg erschrocken. Sie konnte am Grab ihrer Mutter nicht allen Hass und Neid loswerden, die sie seit Jahren empfand. Auf Fleur, die Frau, die ihr Mann Etienne liebte, der so sehr von ihr besessen war, dass er heimlich ihre Fotos sammelte. Etienne, der sie gedemütigt und vergewaltigt hatte, weil er Fleur nicht bekommen konnte. An ihr hatte er seinen Hass, seine Wut und seine Frustration ausgelassen. Wegen Fleur, die offenbar jeden Mann bekam, Fleur, die Schöne, die Erfolgreiche. Die Egoistin, die sich nahm, was sie wollte. Sogar jeden Mann, den sie wollte, egal ob er verheiratet war.
»Es tut mir so leid«, antwortete Fleur leise und fing zu weinen an. »Wenn ich gewusst hätte, wie schwer krank sie ist …«, wiederholte sie.
»Dann wärst du auch nicht gekommen«, unterbrach Denise sie scharf. Eines gab Denise nicht zu: Sie war froh gewesen, dass Fleur nicht mehr gekommen war. Die todkranke Joselle hatte ihr in der letzten Zeit ihres Lebens die Liebe und Geborgenheit gegeben, nach der sie sich immer gesehnt hatte, von der sie nicht genug bekommen konnte. Und im Stillen dachte Denise jetzt, dass es diese kostbare Zeit nicht gegeben hätte, wenn Etienne sie nicht vergewaltigt und geschlagen hätte. Diese Erkenntnis ließ sie jetzt versöhnlicher werden.
»Sie ist einfach eingeschlafen«, erzählte sie. »Als ich am Morgen kam, war sie tot, sie war noch warm.«
Fleur wurde bei dieser Schilderung sofort wieder übel. Von der langen Zugfahrt übermüdet, wurde ihr schwarz vor Augen, Schweiß lief ihr den Rücken hinunter, und mit einem leichten Stöhnen sank sie zurück auf den Sockel des steinernen Engels.
Misstrauisch beobachtete Denise ihre Schwester. »Geht es dir nicht gut?«
Fleurs Gesicht war blass, und mit einer Hand strich sie über die feuchte Stirn. »Ich habe seit gestern Nachmittag nichts mehr gegessen«, wich sie aus.
»Schade, dass du nicht ins Crocodile gekommen bist, das Essen war wirklich gut. Es gab Fasan mit Trüffeln und vorher eine wunderbare
foie gras.
«
Bei dem Gedanken an Gänseleberpastete überfiel Fleur erneut Brechreiz, den sie kaum noch unterdrücken konnte. Sie atmete tief durch und presste ihre Hand vor den Mund.
Denise musterte sie kritisch, und als es Fleur wieder besserging, zeigte sie auf den großen Kranz. »Ist der nicht schön? Auch da hat Etienne keine Kosten gescheut.«
»Mir gefällt der aus Weinlaub besser, von wem ist der?«, fragte Fleur, um Denise von sich abzulenken.
»Das ist eine lange Geschichte.« Denise gab ihre feindselige Haltung auf und setzte sich neben ihre Schwester. »Lisette, ihre einzige Freundin, hat mir nach Mamans Tod von Pierre erzählt.«
»Wer ist Pierre?« Fleur wurde neugierig.
»Maman hat Pierre Dumont geliebt.«
»Den Weinhändler?« Fleur konnte es nicht glauben. »Und? Wann war das?«
»Ein paar Jahre nachdem unser Vater verschwunden war. Da hatten wir schon von seinem Tod erfahren«, antwortete Denise.
»Und?«
»Nichts und. Pierre Dumont war verheiratet und ist es noch immer, aber sie haben sich geliebt. Maman hat nie eine Affäre mit ihm angefangen. Sie wollte sich nicht in eine Ehe drängen. Für sie war ein verheirateter Mann tabu.« Hier wurde Denise’ Tonfall anzüglich. »Sie hat gesagt, sie sei nicht eine von denen, die eine Ehe zerstören. Das könnte sie sich nicht verzeihen, da wolle sie lieber verzichten. Das hat mir jedenfalls Lisette so erzählt.«
»Nun ja«, antwortete Fleur mit schwacher Stimme, »das muss jeder für sich selbst entscheiden. Niemand darf über einen anderen Menschen richten. Dazu hat man kein Recht.«
Denise fuhr hoch: »Maman hat nicht über dich gerichtet, wie du es nennst. Sie war nur traurig, dass du in den Zeitungen als …«
»Hör auf!« Jetzt war es Fleur, die mit
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