Die Stunde der Schwestern
Déschartes.
Außer Etiennes auffälliger Ehrung hatte jemand die Tote mit einem großen Strauß Sonnenblumen bedacht. Dann blieb Fleurs Blick an einem außergewöhnlichen Kranz hängen. Er war aus rotem und grünem Weinlaub gebunden, und dazwischen leuchteten ein paar Hagebuttenzweige heraus. Auf der Schleife stand:
Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.
Fleur beugte sich hinunter, drehte die Schleife herum, doch es stand kein Name darauf.
Glaube, Hoffnung, Lieb
e, noch einmal las Fleur den Satz. Er passte auf ihr eigenes Leben. Sie hatte Patrice geglaubt, als er sagte, dass er sie liebe, und sie hatte gehofft, er würde sie heiraten. Doch er hatte sie verlassen.
Am Grab ihrer Mutter empfand sie den Schmerz über die Trennung von Patrice genauso heftig wie den Schmerz über den Tod ihrer Mutter, vielleicht sogar noch stärker. Sie erschrak über ihre Gefühle. Sie war gekommen, um über den Verlust ihrer Mutter zu trauern, und nicht, um ständig an Patrice zu denken, den Mann, der sie verlassen hatte und dessen Kind nicht leben sollte. Er wollte es nicht. Und sie selbst? Was war mit ihr, was wollte sie?
Ein Schwindelgefühl packte sie. Tief atmete sie durch und ließ sich vorsichtig auf dem feuchten Fundament des steinernen Engels nieder, der seine breiten, moosbewachsenen Flügel über das Grab ihrer Familie ausbreitete.
Fleur fühlte sich nach der Nachtfahrt im Zug erschöpft. Sie schloss die Augen und verbarg ihr Gesicht in den Händen, bis sich langsame Schritte auf dem Kiesweg näherten.
Fleur hob den Kopf und sah der Frau entgegen, die mit schleppenden Schritten auf das Grab zuging. Es war Denise. Sie zog das rechte Bein ein wenig nach, sie war dicker geworden, und ihr Gesicht schien aufgedunsen. Fleur erhob sich vom Steinsockel und ging Denise entgegen. Doch ihre Schwester wich einer Umarmung aus und begrüßte sie nur mit einem kühlen Nicken des Kopfes. Es war Fleur unangenehm, wie Denise den Blick über ihr schwarzes Kostüm gleiten ließ, an dem kleinen Hut hängenblieb und dann wieder abwärts zu den teuren Satinhandschuhen wanderte. Fleur erkannte den Neid im Blick ihrer Schwester und fühlte sich beschämt. Sie war zu elegant gekleidet für eine Beerdigung in Saint-Emile. Für die Beerdigung der eigenen Mutter, um die sie sich nicht mehr gekümmert hatte.
»Es tut mir so leid, dass ich nicht rechtzeitig da war, aber mein Anschlusszug in Marseille …«
»Daran bist du selbst schuld, du hättest ja schon gestern kommen können.« Denise’ Stimme hatte den streitsüchtigen Ton nicht verloren, den Fleur so gut kannte. »Ich habe nicht gedacht, dass du überhaupt erscheinst«, fuhr Denise fort, »du hast dich hier nie mehr blicken lassen, obwohl Maman es sich so gewünscht hat.« Und mit gesenktem Kopf sprach sie einen Satz aus, der sie große Überwindung kostete: »Maman hat dich geliebt, du warst ihre Lieblingstochter, das weißt du auch. Und trotzdem hast du sie im Stich gelassen.«
Fleur schwieg betroffen. »Das habe ich nicht gewusst«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Es tut mir ja so leid.« Sofort schossen ihr wieder Tränen in die Augen.
»Du bist egoistisch und feige«, erklärte Denise mit ruhiger Stimme. »Du bist gegangen und hast dein eigenes schönes Leben geführt. An uns hast du nicht mehr gedacht.«
»Das ist nicht wahr«, verteidigte sich Fleur. »Das ist nicht wahr«, wiederholte sie mit leiser Stimme. »Ich habe kein schönes Leben gehabt. Bis auf die letzten Monate, da …« Ihre Stimme verlor sich in der Stille des Friedhofs. Sie sprach nicht weiter, denn Denise hörte ihr nicht zu. Sie hatte sich abgewandt, bückte sich und nestelte die Schleife von Etiennes aufwendigem Kranz zurecht.
Als sie sich wieder aufrichtete, wechselte sie das Thema: »Meine Schwiegermutter Marguerite hat eine sehr schöne Messe für Maman lesen lassen, und Etienne hat ein paar gute Bekannte, alles Honoratioren der Stadt, zu einem festlichen Leichenschmaus eingeladen.« Als Fleur sich nicht beeindruckt zeigte, fügte sie hinzu: »Ins Crocodile, das ist das beste Restaurant in der ganzen Umgebung. Sehr teuer.«
»Das wird Maman sicher freuen«, antwortete Fleur ironisch.
Die Prahlerei ihrer Schwester schien ihr unerträglich. Denise wurde blass und presste ihre Lippen aufeinander. Sofort fühlte sie sich wieder der schönen Schwester unterlegen.
»Entschuldige«, murmelte Fleur, »lass uns nicht streiten! Ich fühle mich auch nicht gut,
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