Die Stunde der Schwestern
scharfer Stimme reagierte. »Lass es gut sein!«
Denise schwieg und sah in den Himmel hinauf. »Die Wolken verändern sich, sie künden den Mistral an.«
Fleur erschrak. Genau diese Worte hatte Joselle damals auf dem Weg zum Bahnhof gesagt.
»Warum sagst du das?«, fragte Fleur.
»Weil es wahr ist, schau doch hinauf!« Denise deutete mit dem Kinn nach oben. Doch Fleur sah nicht hoch, sie sah ihre Schwester an. Denise wirkte älter als fünfundzwanzig: ein verhärmtes Gesicht, zusammengepresste Lippen und strähnige Haare. »Ich richte nicht über dich«, sagte sie leise, indem sie den Faden wieder aufnahm. Sie sah auf ihre Hände hinunter und drehte ihren schmalen Ehering mit dem kleinen Rubin, längst zur Fessel geworden, aus der sie sich nicht befreien konnte.
»Maman schrieb in ihrem letzten Brief, dass du wieder schwanger bist.« Als Denise schwieg und alle Farbe aus ihrem Gesicht wich, erschrak Fleur. Hatte Denise dieses Kind auch verloren?
Denise fuhr sich ratlos über die Stirn. Durch Fleurs Bemerkung fühlte sie sich in die Enge getrieben, sie wurde nervös. Während sie weiterhin mit ihrem Ehering spielte, sah sie auf das frische Grab, auf das der Schatten des steinernen Engels fiel. Der Friedhof war ein heiliger Ort, da sollte man nicht lügen.
»Weißt du noch«, fragte sie leise ihre Schwester und hielt den Blick auf ihre Hände gesenkt, »als wir Kinder waren, kamen wir hierher, um uns die Wahrheit zu sagen. Wir glaubten, die Seelen der Toten seien hier, und deshalb wäre es eine Sünde, an diesem Ort zu lügen.«
Fleur nickte, während ihr bereits wieder die Tränen in die Augen stiegen. »Ja, irgendwer in der Schule hat uns das erzählt, und wir haben es geglaubt.«
»Weißt du …« Nach kurzem Zögern wandte sich Denise entschlossen an ihre Schwester. Jetzt war die Gelegenheit da, sich jemandem anzuvertrauen. Fleur war ihre Schwester, und sie würde sie nicht im Stich lassen oder sie verraten. Sie musste jemandem die Wahrheit eingestehen, denn die Zeit verstrich, und sie steuerte auf eine Katastrophe zu. Seit jenem furchtbaren Tag rührte Etienne sie nicht mehr an. Weder erwähnte er die Vergewaltigung mit einem Wort, noch kam eine Entschuldigung über seine Lippen. Er blieb kühl, ein wenig abwartend, doch Denise spürte, dass er sie unablässig beobachtete.
»Ich bin gar nicht schwanger«, flüsterte sie und blickte sich scheu um. »Aber Etienne darf es auf keinen Fall wissen«, fügte sie sofort hinzu.
»Was heißt das?«, fragte Fleur verständnislos.
»Ich … ich weiß nicht, wie ich aus der Sache herauskommen soll. Mutter hat sich so gefreut und gehofft, die Geburt noch zu erleben. Aber …«
Denise schwieg, denn der Kiesweg knirschte unter den Füßen einer alten Frau, die in der Nähe Blumen auf ein Grab legte und ein kurzes Gebet sprach. Dann nickte sie den beiden Schwestern zu und entfernte sich wieder.
»Ich habe es nur so gesagt, einfach so.«
Denise wollte ihrer Schwester aus Scham nichts erzählen von dem furchtbaren Tag, geschweige davon, dass Fleur der Auslöser für Etiennes brutale Reaktion gewesen war. Denise hatte sich ihrer Mutter anvertraut, den Vorfall aber verharmlost und Etienne sogar in Schutz genommen. Denn eines wollte Denise auf keinen Fall sein, eine einsame geschiedene Frau. Joselle hatte ihr geraten, die Sache einfach zu vergessen, das sei besser so, Männer seien eben triebgesteuert. Sicher würde es Etienne leidtun, aber Männer könnten sich eben nicht über die eigenen Gefühle äußern.
»Wenn Etienne erfährt, dass ich nicht schwanger bin, dann trennt er sich von mir.« In Denise’ Augen standen Verzweiflung und Panik, als sie nach Fleurs Hand griff und sie fest umklammerte. »Er hat es mir schon nach der letzten Fehlgeburt angedroht. Er will ein Kind, ein eigenes. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Fleur erwiderte instinktiv den Druck von Denise’ Hand.
»Ich weiß nicht, Denise, mir scheint, du bist nicht glücklich mit Etienne. Warum hast du dann solche Angst vor einer Trennung?«
»Ich will keine Scheidung, niemals. Ich könnte die Demütigung hier in der Stadt, die Verachtung der Leute nicht ertragen.«
»Unsinn.«
»Das verstehst du nicht«, schnitt ihr Denise das Wort ab. »Außerdem«, setzte sie nach einer kurzen Pause leise hinzu, »wünsche ich mir selbst so sehr ein Kind. Weißt du, damals, als ich schwanger wurde und Etienne mir den Antrag machte, da …«
»Da hast du ihn hereingelegt«, ergänzte Fleur den Satz, als
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