Die Stunde Der Toechter
Johanna am Vorabend bereits beobachtet. Tamara aß schnell, intensiv und wenig. Johanna schenkte Wein ein und gab Tamara ein Glas. Sie prosteten sich zu. Der Roquefort schmeckte wunderbar mit den Birnen zusammen.
»Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte von meinem Großvater.« Tamara steckte sich ein Stück Tomme in den Mund. »Damit du verstehst, warum ich nicht zu seiner Beisetzung gegangen bin.« Sie hatte bereits genug gegessen und legte sich wieder auf den Rücken. »Meine Tante Marianne war die Nachzüglerin der Familie. Sie ist fast zehn Jahre jünger als Bruno, mein Onkel. Er ist der Älteste. Meine Großmutter ist gestorben, als Marianne drei oder vier war. Danach hat mein Großvater sie als seinen Privatbesitz betrachtet. Das Blöde war nur, dass sie eigensinnig war. Und frühreif. Mit dreizehn hatte sie bereits einen Freund. Er war sechzehn. Es war die große Liebe. Der Junge kam nicht aus Burgdorf, sondern von einem Kaff aus der Umgebung. Mein Großvater hat seiner Tochter verboten, den Jungen zu treffen. Sie sei noch zu jung für einen Freund. Er hat sie in ihrem Zimmer eingesperrt. Da sind die beiden Verliebten zusammen ausgerissen. Nach Zürich. Das war in den Siebzigerjahren. Punk kam auf. Sie hat mir erzählt, dass sie The Clash gesehen hat. Im Volkshaus. Kannst du dir das vorstellen? Meine Tante Marianne auf einem der ersten Punkkonzerte?« Sie setzte sich auf. »Hast du mir eine Zigarette, Jeanne?« Johanna steckte zwei an und gab Tamara eine. »Großvater muss gekocht haben vor Wut. Er hat seine Tochter polizeilich suchen lassen. Und den Jungen angezeigt wegen Nötigung. Dessen Vater ebenfalls. Wegen Vernachlässigung der elterlichen Aufsichtspflicht. Die Polizei hat sie tatsächlich nach Hause gebracht. Ein paar Monate später hatte Marianne einen dicken Bauch. Großvater wollte abtreiben lassen. Es war zu spät. Sie hat es so lange wie möglich verheimlicht. Da hat er ihr nach der Geburt das Kind weggenommen und zur Adoption freigegeben. Das war einfach. Sie war minderjährig.« Tamara blies Rauch in den Himmel. »Dann hat er Marianne eingeschlossen. Bis sie achtzehn war, durfte sie nicht mehr alleine aus dem Haus. Mein Vater musste sie überallhin begleiten. Zum Schwimmen und so. Und später, als sie volljährig wurde, war sie so eingeschüchtert, dass sie sich kaum etwas zutraute.« Tamara steckte die Zigarette in die Erde. »Die Familie des Jungen hat er ebenfalls fertiggemacht. Wirtschaftlich. Die hatten irgendein Geschäft. Mein Großvater hat dafür gesorgt, dass es pleitegegangen ist.«
Johanna schenkte Wein nach. Aber sagte nichts.
»Marianne ist in einer psychiatrischen Klinik gelandet. Irgendwann einmal ist eine Therapeutin auf die Idee gekommen, dass sie ihr Kind kennenlernen müsse. Für meinen Großvater wäre das natürlich nie und nimmer infrage gekommen. Er war immer noch einflussreich in Burgdorf. Marianne konnte nicht einfach zur Vormundschaftsbehörde gehen und fragen, wer ihr Kind adoptiert habe. Das hätte der Alte sofort erfahren. Also hat sie versucht, es heimlich herauszufinden. Mein Vater hat ihr dabei geholfen. Das geht nicht so einfach. Aber man kann das machen. Über eine Adoptionsorganisation. Das hat geklappt. Mariannes Tochter ist im Wallis aufgewachsen. Die beiden treffen sich regelmäßig. Seither geht es meiner Tante besser.« Tamara bewarf Johanna mit einem Steinchen. »Das ist ein Familiengeheimnis. Das darfst du nicht verraten.« Sie drehte sich auf den Bauch. »Ich hoffe, dass Marianne es dem Alten noch gesagt hat, bevor er krepiert ist.«
Johanna trank den Wein aus. »Lass uns baden gehen, Tam.«
16.
Der Polizist und die Hure. Sie waren zusammen alt geworden. Köbi hatte keine Ahnung, wann er das erste Mal bei ihr gewesen war. Jedenfalls vor der Geburt seiner Tochter. Zur Feier derselben hatte sie ihm gratis Französisch angeboten. Das gleiche Angebot hatte sie ihm nur noch einmal gemacht. Nach seiner Herzoperation. »Das ist ein Test für deine Pumpe«, hatte sie gesagt. »Quasi medizinisch.« Er hatte beide Male bezahlt. Beim ersten Mal hatte sie ihm als Ersatz für das ausgeschlagene Angebot ein Plüschtier geschenkt. Einen Tiger. »Für die kleine Bohne.« Daraufhin war er ins Spital geeilt und hatte der Säuglingsschwester das Tierchen gegeben, damit sie es in das Kinderbett legte.
Im Lauf der Jahre hatte sie einige Male die Preise erhöht. Ungefähr im gleichen Rhythmus wie sein Coiffeur. Der war nun allerdings tot. Es hatte lange gedauert,
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