Die Stunde Der Toechter
Genève
»Es handelt sich um eine für unsere Organisation extrem wichtige Angelegenheit. Wir sind unserer Sache sehr verpflichtet. Für Außenstehende ist das nicht immer nachvollziehbar.« Sie lächelte verlegen.
Judith Stämpfli nickte. »Sie suchen Kunstwerke, die verschwunden sind?« Die Bedienung kam. Sie bestellte eine Schale. Dazu ein Croissant.
»Eine ›Schale‹ ist ein Milchkaffee, nicht wahr?«
Sie nickte.
Ihre Begleiterin verlangte das Gleiche. »Wir sind eine Nichtregierungsorganisation. Unsere Hauptaufgabe ist es, verschollene Kulturgüter zu beschaffen und den rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben. Häufig sind das Kunstwerke, die in einem Krieg verschwunden sind. Von Soldaten konfisziert. Von Plünderern geraubt. Manchmal ist es auch einfach Diebesgut, das nach dem dritten oder vierten Weiterverkauf bei jemandem landet, der keine Ahnung von der ursprünglichen Herkunft hat. In solchen Fällen versuchen wir, die aktuellen Besitzer davon zu überzeugen, ein Bild oder eine Figur zurückzugeben. Manchmal müssen wir die Behörden involvieren.« Sie machte ein Gesicht, als ob ihr dies peinlich wäre. »Wir waren erfolgreich im Wiederbeschaffen von nationalsozialistischer Raubkunst. Gerade auch in der Schweiz. Leider, muss man sagen.« Einen Moment lang blickte sie still auf die Tischplatte. Danach schaute sie wieder Judith Stämpfli an. »Einige dieser Kunstwerke konnten wir den Nachkommen der legitimen Besitzer zurückgeben. Andere sind im Museum. Und so wenigstens der Allgemeinheit zugänglich.« Sie faltete ihre Hände auf dem Tisch. »Das ist es, was wir tun. Wenn man diese Arbeit macht, muss man ein wenig verbissen sein. Verstehen Sie, was ich meine?«
Judith Stämpfli nickte. Gedankenverloren blickte sie in Richtung Tür. Zwei riesige Tassen Kaffee und ein Körbchen mit Croissants wurden serviert. Sie nahm einen Schluck.
Dann blickte Judith Stämpfli ihr Gegenüber an. »Verdächtigen Sie meinen Großvater, Raubkunst besessen zu haben?« Sie stockte einen Moment und überlegte. »Es wäre sehr peinlich, wenn es so wäre. Aber ganz ausschließen kann ich es nicht. Er hat viele Geschäfte gemacht.«
Anne-Nicole Davies setzte die Tasse ab. »Ich verstehe Ihre Sorge, Frau Stämpfli. Das ist eine ganz normale Reaktion. Ich kann Sie insofern beruhigen, als es nicht um Ihren Großvater geht.« Sie lächelte kurz. »Ihre Familie ist jedoch trotzdem involviert.« Nach einer kurzen Pause ließ sie die Katze aus dem Sack. »Wir haben den dringenden Verdacht, dass Ihr Onkel wichtige Dokumente versteckt, Frau Stämpfli.«
»Dieser Filou!«
Sie hätte es wissen müssen. Es war immer Bernhard.
Verärgert kramte sie ein Croissant aus dem Korb. »Besitzt er tatsächlich die Frechheit, unsere Familie in seine krummen Geschäfte hineinzuziehen?« Sie biss in den Teig und kaute wütend darauf herum. Immerhin hielt der Buttergipfel, was er versprach. »Die Verwandtschaft kann man sich nicht aussuchen, nicht wahr?«
Anne-Nicole Davies ließ ihr einen Moment Zeit. Dann fuhr sie fort. »Es geht um Geschäftsunterlagen über den Handel mit archäologischer Kunst aus Italien. Vor allem etruskische Ausgrabungsfunde. Sie wissen schon, Gefäße, Schrifttafeln, Bronzestatuen.« Sie blickte Judith Stämpfli aufmerksam an.
Diese nickte. »Ich weiß, was man sich darunter vorstellen muss.«
»Die Unterlagen sind Buchhaltungsauszüge, Register und so weiter. Unser Problem ist, dass die Frist zur Rückgabe solcher Funde gemäß italienischem Recht abläuft. Wenn dies geschieht, haben wir keine Chance, diese Gegenstände der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.« Sie wurde eindringlicher. »Deshalb haben wir es so eilig.« Einen Moment überlegte sie. »Es tut mir leid, dies sagen zu müssen, Frau Stämpfli, aber Ihr Onkel war nicht sehr kooperativ. Leider können wir ihm nicht vertrauen. Deshalb wende ich mich an Sie.«
Judith Stämpfli wischte die Krümel auf dem Tisch zusammen. »Ich kenne meinen Onkel.« Sie lehnte sich zurück. »Sie möchten, dass ich im Archiv meines Großvaters nachschaue, ob Bernhard Geschäftsakten versteckt hat?«
»Das wäre wirklich sehr nett von Ihnen.« Anne-Nicole Davies nickte dankbar. »Vielleicht wäre es hilfreich, wenn ich Sie begleite? Möglicherweise wären wir zu zweit schneller. Ich möchte Ihre Zeit nicht länger beanspruchen als unbedingt notwendig.«
Judith Stämpfli blickte auf die Uhr. »Sie meinen, heute noch?«
Die Frau lächelte schuldbewusst. »Verzeihen
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