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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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dann werden sie nachforschen, wer wir sind. Sie werden Timm finden und den Offizier. Für sie wird es die Gerechtigkeit sein, daß wir tot sind. Ich möchte wissen, ob es jemals Leute gegeben hat, die gestorben sind, wie wir sterben."
    Bindig ließ achtlos das Pappmundstück mit dem Rest Glut fallen. Es fiel in die zertrampelte Erde zu Zados Füßen, und die Glut erlosch in dem Gemengsel von Erde und Schnee.
    „Noch sind wir nicht tot", sagte Bindig. „Hör auf, davon zu reden."
    ja. Noch sind wir es nicht." Zado warf seinen Zigarettenrest neben den Bindigs. „Ich wünschte, wir kämen durch. Wir würden Krüppel sein, aber sie würden keine Freude an uns haben ..."
    „Heutzutage gibt es schon vernünftige Prothesen", sagte Bindig zögernd, „und ein geschickter Arzt kann deine Därme vielleicht wieder zusammenflicken."
    Zado lächelte, aber Bindig sah es nicht. Er fragte leise: „Was würdest du machen, wenn du hier noch einmal herauskämst?"
    Dicht hinter dem Loch barst eine Siebzehnzwo-Granate. Sie sollte wohl dem Waldrand gelten, aber offenbar war das Geschütz zu kurz eingerichtet gewesen.
    Während Zado sprach, tackte ununterbrochen das Maschinengewehr auf dem Hügel. Der Panzer schickte ein paar Granaten hinauf, aber sie hatten das Gewehr jetzt sicher eingegraben, und es schoß weiter.
    „Wenn ich mir hier in diesem Loch überlege, was ich tun würde, dann sind das solche Sachen, die mir gut und gerne drei Hochverratsprozesse einbringen würden", sagte Zado.
    „Hier in diesem Loch merkt man, was man alles hätte tun können und was man nicht getan hat. Man stellt sich vor, was man würde tun können, wenn man es übersteht."
    Er atmete und preßte die Hand fest auf den Leib dabei. Dann sagte er:
    „Man müßte nach Hause kommen, und dann müßte man die Leute, die uns hierhergeschickt haben, an die Laternenpfahle hängen. Damit würde man anfangen. Dann die von den Zeitungen, die die Helden fabriziert haben, und die vom Radio. Man müßte die Garnisonen ausräumen und die Stäbe. Bis der Generalstab nur noch über seine Ordonnanzen befiehlt und über niemand sonst. Und dann müßte man ein paar gute Laternenpfähle für den Generalstab suchen und für alles andere, was sonst noch regiert und befehligt hat. Danach wäre der Dreck vorbei. Was dann kommt, weiß ich nicht. Ich habe keine Vorstellung davon.
    Vielleicht sind wir überhaupt nur hier in diesem Loch gelandet, weil wir keine Vorstellung von dem haben, was danach kommt..."
    Wieder schlug eine Granate in der Nähe des Loches ein und überschüttete die beiden mit einem Regen von Dreck und schmutzigem Schnee.
    „Phantasie", sagte Zado, „alles Phantasie. Wir werden hier nicht mehr davonkommen. Wir hätten uns das alles eher überlegen müssen. Jetzt ist es nur noch Phantasie."
    „Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich hier davonkäme", sagte Bindig, „ich glaube, ich würde zurückgehen in meine Bibliothek, wenn es sie noch gibt. Ich würde wieder Bücher ausleihen. Bücher lesen. Musik hören. Vielleicht einmal wieder ins Kino gehen. Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, das würde alles sein. Was es sonst noch gibt, würde ich denken, nicht tun."
    Er brannte eine neue Zigarette an und gab sie Zado. Dann nahm er selbst eine.
    „So ist es", sagte Zado, „genau so. Pläne haben wir. Aber am Ende würden wir die ganzen Pläne vergessen. Stell dir vor, es hätte uns nicht hier erwischt und wir wären drüben angekommen. Ohne daß es mir die Därme und dir den Knöchel zerrissen hätte. Denke nach und sei ehrlich dabei. Sie hätten uns nach hinten geschickt. Zurück zu unserem Haufen. Weit hinten. Dort, wo du keine Granate mehr hörst und kein Maschinengewehr. Und dann hätten wir uns ausgeschlafen und hätten unsere Verpflegung empfangen und Schnaps und Zigaretten. Es hätte Schokolade für uns gegeben, und wir hätten sie zu den Weibern mitgenommen. Und alles wäre so gewesen wie immer zuvor, nicht anders. Wenn du ehrlich bist, dann wirst du zugeben, daß es so gekommen wäre."
    Bindig nickte. „Ich glaube, ja. Ich hätte nicht gewußt, was sonst zu tun wäre. Ich wäre froh gewesen, noch zu leben, und ich hätte wieder Angst gehabt, das Leben zu verspielen."
    Er schwieg und lauschte dem Maschinengewehrfeuer, das wieder aufgeflackert war. Er hörte Zado sagen: „Das sind wir. Eine Generation, der sie das Rückgrat gebrochen haben. Wie haben es erst gemerkt, als wir uns aufrichten wollten. Wir können uns nicht allein aufrichten.

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