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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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warf einen schnellen Blick darauf und dann steckte er gemächlich die Pistole wieder ein, die er gezogen hatte.
    „Bindig!"
    Der Angerufene war mit einem Sprung neben ihm, die Mündung seiner Waffe zeigte zur Erde, wo sich im lockeren Schnee etwas bewegte.
    „Der ist fertig", sagte Timm, „der wartet bloß noch auf dich. Das ist der Idiot, der Ziehharmonika gespielt hat..."
    Das Bündel am Boden war ein Mensch. Ein Soldat, den die Explosion der Mine aus dem Wagen geschleudert hatte. Er trug die Pelzmütze noch auf dem Kopf, und einen Augenblick lang fragte Bindig sich verwundert, weshalb sie beim Sturz nicht fortgeflogen war. Aber da sah er, daß die verkrümmt im Schnee liegende Gestalt ein Akkordeon vor der Brust trug. Es schien noch ganz zu sein, nur an der einen Seite war die Schlaufe gerissen, die über den Arm des Spielers gestreift war. Der Soldat am Boden bewegte sich stöhnend. Er versuchte, den Kopf zu drehen, damit er die beiden Männer sehen konnte, die vor ihm standen, und es gelang ihm nach vieler Mühe. Bindig ließ die Pistole sinken. Er wollte sich bücken und den Verletzten bequemer betten, er wußte in diesem Augenblick nicht, was sonst zu tun war. Aber da blickte der Soldat ihn aus zwei großen, dunklen Augen an, stieß einen gequälten Schrei aus und bewegte sich stärker.
    Es schien, als wolle er das Akkordeon abstreifen, aber es gelang ihm nicht, denn offenbar hatte er einige Brüche erlitten, als er von dem Wagen stürzte.
    Timm trat nahe an ihn heran und stieß ihn mit dem Schuh in die Seite. „He, Iwan, Ruhe!"
    Der Soldat bewegte mit einer unerhörten Anstrengung den Arm und tastete an die Hüfte. Er schob das Akkordeon ein wenig beiseite, aber es rutschte ihm wieder in den Weg.
    „Der geht doch an die Pistole!" zischte Timm. Es klang höhnisch, erstaunt und gereizt. Bindig sah, daß der Soldat die Pistolentasche erreicht hatte, die an seiner Hüfte hing. Er konnte den Arm nur sehr langsam bewegen. Offenbar war an der Schulter etwas gebrochen. Er schrie nicht mehr, aber er murmelte leise Worte vor sich hin, heiser und fast flüsternd.
    „Mach Schluß mit ihm", forderte Timm Bindig auf, „der kriegt es sonst fertig und ballert in die Gegend."
    Der Soldat versuchte verbissen, die Tasche zu öffnen. Es gelang ihm auch nach vieler Mühe. Er hatte sich ein wenig aufgerichtet und mußte dabei starke Schmerzen verspüren, denn sein Gesicht war verzerrt. Es war ein sehr junges,
    bleiches Gesicht. Man hätte es schön nennen können. Bindig stand unbewegt und sah ihm zu. „Na los!" hörte er Timm drängen. „Gib ihm eine und laß uns abhauen. Setz ihm die Pistole an den Kopf, das ist nicht so laut."
    Der Soldat riß die Ledertasche auf und zog eine flache, langläufige Pistole hervor. Er konnte sie kaum in der Hand halten, sie fiel ihm in den Schnee, aber er hob sie wieder auf.
    „Was der sich abmüht, bevor er stirbt!" sagte Timm. „Nun gib ihm eine, es wird Zeit..."
    Bindig starrte den Verletzten an, der unter Aufbietung aller Kraft versuchte, die Pistole zu heben. Sie glitt ihm immer wieder aus der Hand und fiel in den Schnee. Timm stand ruhig daneben. Er hätte mit einem Fußtritt die Waffe des Soldaten fortschleudern können, aber er tat es nicht. Er beobachtete grinsend die Anstrengungen des Mannes und behielt dabei beide Hände in den Hosentaschen, ohne eine Anstrengung zu machen, die den Schuß des Soldaten hätte ver-
    hindern können. Er wartete auf Bindig, und er wollte Bindig machen lassen, was hier zu tun war. Es bereitete ihm Spaß, dabei zuzusehen, und er wußte, daß Bindig schießen würde. Aber es dauerte ihm zu lange, und plötzlich sagte er rauh:
    „Ich bin gespannt, ob du ihm bald eine gibst oder ob du wartest, bis er deinen Unteroffizier angeschossen hat!" Da sah Bindig, wie der Soldat den Finger krümmte. Er hatte die Pistole neben die Harmonika an die Brust gedrückt. Es mußte ihm so leichter fallen, den Schuß auszulösen. Er hatte sich ein wenig aufgerichtet, keuchend und stöhnend. Aus seinem Mund lief Blut in einem dünnen, dunklen Faden. Der Finger, der sich um das Metall krümmte, war mit einemmal die ganze Welt für Bindig. Er sah nichts anderes mehr, nur die mühsame Bewegung, die seinen Tod verursachen sollte, vielleicht auch den Timms. Da krümmte er den eigenen Finger mit einer schnellen Bewegung durch.
    „Nerven hast du schon", stellte Timm sachlich fest, „jetzt glaube ich dir, daß du keinen Zucker brauchst." Er beugte sich über den Toten und nahm

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