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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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ihm die schmale Pistole aus der schlaff gewordenen Hand. Bindig stand hinter ihm. Er sah auf die Mündung seiner Waffe, aus der ein leichter Rauchfaden entwich.
    Über die Mündung hinweg sah er den Rücken Timms, der sich über den Toten beugte. Er fühlte sich verraten, vergewaltigt, es ekelte ihn vor sich selber und vor Timm und vor der unbekannten Leiche im Schnee zu seinen Füßen. Es war, als hocke vor ihm ein Peiniger im Schnee, der wie ein giftiges Insekt fortwährend auf ihn einstach. Auf einen Wehrlosen. Er hörte Timm durch die Zähne pfeifen. Leise und zischend. Er hätte später nicht sagen können, ob er die Pistole in dem Augenblick auf den Boden oder auf Timms Rücken gerichtet hielt, als er den Unteroffizier plötzlich sagen hörte: „Mensch, das ist ein Weib."
    Es traf ihn wie ein Schlag, und er ließ die Hand mit der Pistole sinken. Es war, als habe man ihm alle Knochen zerschlagen. Er machte einen schwankenden Schritt vorwärts.
    Und dann sah er das lange Haar.
    Timm hatte die Pelzmütze mit einer Handbewegung weggefegt. Er nestelte an den Knöpfen der Steppjacke herum. Bindig wartete nicht, bis Timm der Frau die Uniform geöffnet hatte. Er wandte sich ab, aber er behielt dieses unglaubliche Bild trotzdem vor seinen Augen, wie der Unteroffizier über der erschossenen Frau hockte und ihr die Knöpfe über der Brust öffnete, mit harten, flinken Fingern. Er hörte Stoff zerreißen, während er dem Rand der Straße zustolperte, und dann hörte er, wie Timm anerkennend mit der Zunge schnalzte. Er steckte die Pistole ein. Er war kraftlos, zerschlagen. Es war, als läge mit einemmal die Müdigkeit aller Nächte seines Lebens in seinen Adern. Als gäbe es kein Leben und keine Energie mehr in ihm. Die Augen, in die er geblickt hatte, bevor er schoß, schienen nicht der Frau zu gehören, die hinter ihm im Schnee lag, sondern Anna. Er lehnte sich an einen Baum am Straßenrand und atmete schwer. Jeden Augenblick konnte ein anderes Fahrzeug die Straße entlangkommen. Dann war es zu spät, und man kam nicht mehr von hier fort.
    „Los, komm schon!" rief er leise.
    Ein Grunzen antwortete ihm. Dann waren Timms Schritte da und seine heisere Stimme, die anerkennend sagte: „Mein lieber Mann, die wäre mir lebendig lieber gewesen. Gut gewachsen..."
    Sie tauchten zwischen den Bäumen unter. Als sie den ersten Schritt von der Straße weg machten, fiel hinter ihnen der Körper der getöteten Frau vornüber. Die Harmonika gab einen leisen, klagenden Ton von sich. Es war Bindig, als habe die Frau ihnen einen Fluch nachgeschrien.
    Er sprach nichts. Er zog wortlos das Bündel mit den Ästen hinter sich her, bis sie an der Einflugstelle am See waren. Sie trafen die übrigen Soldaten ihrer Gruppe. Von den anderen beiden Gruppen war nichts zu sehen. Sie hockten sich unter die verschneiten Büsche und warteten. Timm setzte die Magnesiumlichter. Nach Mitternacht kamen noch zwei Mann von der Gruppe, die das Stellwerk überfallen hatte. Sie hatten Posten gestanden und waren unverletzt.
    „Es war eine unheimliche Schießerei...", berichtete einer von ihnen. „Aber es wäre glatter Selbstmord gewesen, wenn wir auch noch hingelaufen wären. Zurückgekommen ist keiner mehr..." Sie warteten, und von Minute zu Minute wurde das Gefühl der Unsicherheit stärker.
    Es war wie immer. Die Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Timm hockte schweigend unter seinem Busch und rauchte eine Zigarette aus der hohlen Hand. Von der Gruppe, die den Gefangenen hatte einbringen sollen, kam niemand zurück, bis das Motorengeräusch in der Luft war. Timm ließ die Landelichter anzünden. Er sagte kein Wort, als sie in die Maschine stiegen. Es war eine geräumige, einmotorige alte Junkers, mit der sie schon oft geflogen waren. Der Pilot gab Gas, noch bevor sie das Schott richtig verschlossen hatten.
    „Du gefällst mir nicht", flüsterte Zado Bindig zu, „was ist los? Krach mit Timm gehabt?"
    „Nein."
    „Was habt ihr mit den Minen angestellt?"
    „Ein Lastwagen!" sagte Bindig müde.
    „Tote?"
    „Eine Harmonika", sagte Bindig leise. Er starrte auf den Boden der Kabine.
    „Harmonika?" Zado rückte ganz dicht an ihn heran und boxte ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. „Was ist los, Mann! Was ist mit dieser Harmonika? Bist du besoffen?"
    „Eine Harmonika...", sagte Bindig langsam und sehr leise, „wir haben eine Harmonika getötet. Es war dunkel, aber ich glaube, sie hatte schwarze Augen
    ..."
    „Du bist verrückt!" sagte Zado kopfschüttelnd.

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