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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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Er nahm den Helm ab und wischte den Schweiß aus dem Genick. „Du bist mit dem Kopf an einen Baum gerannt. Es scheint eine Eiche gewesen zu sein ... eine großdeutsche Eiche..."
    „Gib mir einen Schnaps", bat Bindig.
    Sie kamen nach Sonnenaufgang in Haselgarten an. Ein Lastwagen mit einer Handvoll müder Männer, deren Hände zitterten und deren Gesichter bleich und übernächtig waren.
    Paniczek stolperte und fiel lang in den Schnee, als er vom Wagen sprang. Er blieb ein paar Sekunden liegen und erhob sich dann mühsam. Der Schnee schmolz auf seiner Stirn und an seinem Hals, und das Wasser lief ihm in den Kragen. Er torkelte wie ein Betrunkener auf die Unterkunft zu, ohne sich noch einmal umzublicken.
    „Der ist auch fertig", sagte Zado zu Timm.
    Aber Timm ließ sich nicht auf ein Gespräch ein. Er sagte nur: „Haut euch hin und schlaft euch aus." Dann ging er Alf entgegen, der die Dorfstraße herabkam.
    Bindig warf die Maschinenpistole auf den Strohsack. Er schnallte den Helm ab, ließ ihn ebenfalls fallen und zog die steife Kombination aus. Er ließ alles liegen und steckte nur die Pistole ein. Dann wollte er das Quartier verlassen.
    „Gehst du weg?" erkundigte sich Zado, der mit unter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Strohsack lag.
    „Ja."
    „Nimm das für sie mit", sagte Zado, während er aus den Brusttaschen der Kombination ein paar Riegel Schokolade nahm und sie Bindig hinhielt.
    „Danke, ich habe selbst noch welche."
    Zado richtete sich ein wenig auf und knurrte gereizt: „Nimm ihr das mit, verflucht! Ich weiß, daß Frauen gern Schokolade essen I"
    Bindig steckte die Schokolade widerstrebend ein. Er wollte nur fort von hier. Es gab keinen anderen Gedanken in ihm. Er hörte Zado sagen: „Ich gebe dir Bescheid, wenn du hier gebraucht wirst..." Dann schlug er die Tür hinter sich zu und ging die Straße hinab.
    Er wollte durch das Tor in Annas Gehöft eintreten, aber das Tor war verschlossen. Er entsann sich, daß es hinter dem Hause, dort, wo sich der Gemüsegarten befand, einen Drahtzaun gab, der leicht zu überklettern war.
    Ich werde sie überraschen, dachte er. Sie wird nicht glauben, daß ich schon zurück bin. Ich werde sie nicht erschrecken, ich will ganz einfach ihr Gesicht sehen, wenn ich so unerwartet vor ihr stehe.
    Es war ein kalter, sonniger Tag. Der Schnee war noch frisch und leuchtete stark, und die Augen schmerzten, wenn man lange auf die glitzernde, weiße Fläche blickte. An der Front führte sich nichts. Die Artillerie schwieg, und die Gewehrschüsse, die gewechselt wurden, waren hier nicht mehr zu hören. Es war die erwartungsvolle Stille des Morgens, in der sich noch nichts regt, obgleich die Sonne schon hoch steht.
    Da hörte Bindig das Geräusch der Haustür. Sein Gesicht überzog sich mit einem Lächeln, als er sich an die Hauswand duckte und zum Hof hinübersah. Es waren Schritte dort. Er sah, wie Anna über den Hof ging. Sie trug Stiefel und hatte einen Mantel übergeworfen. Sie ging bis ans Tor, und dort drehte sie sich um. Sie trug einen Kartoffelsack in der Hand. Im selben Augenblick, als er begriff, daß sie dabei war, den Hof zu verlassen, hörte er ihre Stimme. Sie rief nicht laut, aber so, daß Bindig es ohne Mühe verstehen konnte: „Wenn du Lust hast, könntest du den Schnee ein wenig vom Haus wegscharren! Aber laß darüber nicht das Feuer in der Küche ausgehen!"
    Bindig lächelte über ihre Art, mit dem Taubstummen, der sie doch nicht verstehen konnte, zu sprechen. Er wollte sich erheben und quer durch den verschneiten Gemüsegarten über den Hof auf sie zulaufen, aber eine Stimme, die plötzlich auf Annas Worte Antwort gab, ließ ihn stehenbleiben, wo er war. Es war eine angenehme, tiefe Stimme, die einem Mann gehörte, den er nicht sehen konnte, und die Stimme antwortete: „Geh nur, ich werde alles machen! Und komm bald zurück!"
    Er hatte diese Stimme nie gehört. Sie war fremd, und die Worte klangen eigenartig hart. Er sah, wie Anna am Hoftor hantierte. Der Riegel mußte sich verklemme haben, denn mit einem Male kam vom Haus her Jakob, der taubstumme Schwachsinnige, über den Hof. Er ging aufrecht, nicht in jener schlaffen, schleppenden Haltung, die Bindig an ihm gewohnt war. Er zog mit einem energischen Griff den Riegel zurück und öffnete das Tor. Während Anna an ihm vorbeiging, sagte er laut und freundlich: „Auf Wiedersehen." Dann schlug er das Tor zu und ging mit knirschendem Schritt wieder zurück über den Hof, bis er aus Bindigs Blickfeld

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