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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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verschwunden war.
    Es wurde wieder still. Bindig senkte langsam den Kopf. Er fühlte sich nicht in der Lage, in das Haus zu gehen und aufzuklären, was dieses Geheimnis zwischen Anna und dem Knecht zu bedeuten hatte. In ihm war nur der hämmernde Gedanke, daß Anna etwas vor ihm verborgen gehalten hatte. Dieser Mann, der Jakob hieß, war nicht taubstumm und nicht schwachsinnig. Er war wie andere Männer. Wie er selbst.
    Es verging eine Minute und noch eine. Bindig zögerte. Er fühlte, daß die Erregung der vergangenen Nacht noch nicht abgeklungen war, und dazu kam seine Verwirrung über das eben Erlebte. Er lag an der Hauswand, bis er plötzlich die Kälte durch die Uniform spürte. Es war, als verlieh ihm diese Kälte mit einemmal wieder das alte Maß an Kraft und Konzentration. Er erhob sich und ging auf den Hof. Er hatte jetzt den gleichen federnden Schritt wie nachts, als Timm ihn beobachtet hatte, während er zur Straße schlich. An der Hausecke blieb er noch einmal stehen. Mit einer gewandten Bewegung zog er die Pistole aus der Tasche, lud sie durch und ließ sie ungesichert in die Hosentasche gleiten. Bindig bog in den Hof. Er war leer. Mit ein paar schnellen Schritten überquerte ihn Bindig und betrat das Haus.
    Er hörte vom Obergeschoß ein Geräusch und tief hinauf: „Hallo! Jakob!"
    Es kam keine Antwort. Bindig wartete nicht länger. Er stieg die Treppe hinauf. Die Tür zu der Kammer des Knechtes war offen. Bindig konnte den Mann in der Kammer herumhantieren hören. Er stieß die Tür, ohne zu zögern, auf und blieb in der Öffnung stehen. „Hallo, mein Lieber...", sagte er nicht besonders laut.
    Der Mann sah ihm ins Gesicht. Es war derselbe, den Bindig kannte, ein schlaffer Mensch mit leicht herabhängendem Unterkiefer und einem gutmütigen Grinsen in den hellen Augen.
    Aber in diesen Augen war trotzdem etwas, von dem Bindig gewarnt wurde. Er ließ die Hand nachlässig in die Hosentasche fahren und sagte dann: „Hast du aufgepaßt, daß das Feuer nicht ausgeht, Jakob?"
    Der Mann bewegte grinsend den Kopf. In der Kammer stand ein Bett. Man sah, daß es benutzt wurde. Dann waren da noch ein Schrank, ein altmodisches, ein wenig schiefes Möbelstück, ein kleiner Tisch, ein Stuhl und ein Nachtschränkchen.
    „Den Schnee sollst du auch ein bißchen wegschaufeln", sagte Bindig. Er sah den Mann wieder nur hilflos grinsen, und da stieg plötzlich die Wut in ihm auf. Er schrie ihn heiser an: „Spiel mir nicht den Idioten vor! Ich weiß, daß du reden kannst und daß du nicht blöd bist!"
    Er sah, wie der Knecht langsam seine Hände sinken ließ und wie in sein Gesicht ein ernster, verschlossener Ausdruck trat. Das war nicht mehr der schwachsinnige Jakob. Das war nicht mehr der grinsende Taubstumme. Das war ein Mann, den man ernst zu nehmen hatte.
    „Was ist los mit dir?" fragte Bindig. „Warum spielst du den Blöden? Was bist du? Ihr Mann? Ihr Bruder? Deserteur? Oder was sonst?"
    Er wartete, aber der Mann antwortete nicht. Er ließ ihn nicht aus den Augen, aber er öffnete nicht den Mund.
    „Sag, was los ist!" drängte Bindig ungeduldig. „Sag, was das hier zu bedeuten hat. Mehr will ich nicht wissen. Eher gehe ich nicht von hier weg, bis ich es weiß ..."
    Er merkte um den Bruchteil einer Sekunde zu spät, daß der Knecht die Hand unter das Kopfkissen steckte. Er hatte nicht erwartet, daß dort eine Waffe versteckt lag. Er hatte überhaupt nicht damit gerechnet, daß der taubstumme Jakob ihn mit irgendeiner Waffe bedrohen könnte. Aber er war angesichts dieser Gefahr plötzlich wieder der Thomas Bindig, den Timm erzogen hatte. Der Knecht war die Strohpuppe für ihn, die er anzuspringen hatte, die er hundertmal bereits angesprungen hatte, aus allen Lagen und von jeder Seite. Er hatte die Pistole nicht aus der Tasche gezogen, als er sprang. Er prallte dem Knecht gegen die Brust und bohrte ihm das angezogene Knie in den Unterleib. Es war ihm, als höre er die Stimme Timms dabei, der ihn beobachtete. Timm rief: „Höher das Knie! Den Fuß weit nach hinten, das kostet die halbe Kraft! Waagerecht die linke Hand!"
    Er hielt die linke Hand nicht waagerecht, denn er wollte den Knecht mit dem Schlag auf den Hals nicht töten. Er hielt sie senkrecht, so daß der Handteller flach auf seinen Hals schlug. Es war ein leichter, federnder Schlag, den er tausendmal hatte üben müssen, bis ihm der Schweiß aus allen Poren des Körpers gebrochen war, bis er beim Sprung schwarze Ringe vor den Augen gesehen hatte und sich

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