Die Stunde der Wahrheit
dem Deck verteilte. Dann begann der Barkenführer mit seinem Gesang, und die Sklaven machten das Boot los und stemmten sich auf die Staken. Kleine Wellen kräuselten sich am bemalten Bug, als die Barke der Acoma sich vom vertrauten Ufer entfernte.
Die Reise flußaufwärts dauerte sechs Tage. Mara verbrachte die meiste Zeit mit schweigsamem Nachdenken, während die Sklaven die Barke durch meilenweite schlammige Ebenen und bitter riechende getrocknete Thyzafelder stakten. Nacoya schlief an den Nachmittagen; an den Abenden verließ sie den Schutz der Gazevorhänge und gab den Soldaten mütterliche Ratschläge, während sie nach den Stechinsekten schlug, die sich in großen Wolken von den Ufern erhoben. Mara lauschte, während sie an einer Frucht lutschte, die sie von einem Händler gekauft hatte; sie wußte, die alte Frau glaubte nicht daran, lebend wieder nach Hause zurückzukehren. Und tatsächlich schien jeder Sonnenuntergang kostbar, wenn die Wolken sich golden auf der ruhigen Wasseroberfläche spiegelten und der Himmel sich schnell verdunkelte und zur Nacht wurde.
Die Ländereien der Minwanabi lagen etwas abseits an einem kleinen Seitenarm des großen Flusses. Die Sklaven, schweißbedeckt von der frühen Morgenhitze, stakten die Barke durch das Gewirr langsamerer Handelsboote. Unter der Leitung des erfahrenen Barkenmeisters manövrierten sie durch ein verwahrlostes Dorf aus Pfahlbauten, das von den Familien der Fischer bewohnt wurde; der Fluß verengte sich dahinter, und die seichten Stellen und Untiefen machten tieferem Wasser Platz. Mara ließ den Blick über niedrige Berge schweifen, über Ufer mit Bäumen, die in Form geschnitten worden waren. Dann kam die Barke in ein Gewässer, das noch kein Mitglied der Acoma befahren hatte – außer vielleicht ihre allerältesten Ahnen, denn der Ursprung für die Blutfehde mit Jingus Linie lag so weit in der Vergangenheit, daß niemand sich mehr an ihren Beginn erinnern konnte. Die Strömung wurde hier schneller, da das Flußbett schmaler wurde. Die Sklaven mußten hart arbeiten, um die Barke weiterzutreiben. Mara zwang sich zur Ruhe, als ihr Boot weiter auf ein beeindruckend bemaltes Gebetstor zuhielt, das die ganze Breite des Flusses überspannte. Hier war die Grenze des Gebietes der Minwanabi.
Ein Soldat verneigte sich vor Mara und deutete mit seiner sonnengebräunten Hand auf die gestufte Struktur, die das Gebetstor krönte. »Habt Ihr es bemerkt? Trotz der Farbe und der Verzierungen ist dieses Bauwerk eigentlich eine Brücke.«
Mara fuhr leicht zusammen, denn die Stimme war ihr vertraut. Sie betrachtete den Mann näher und lächelte über die Klugheit ihres Supais. Arakasi hatte sich so perfekt in die Reihe der Ehrenwachen eingegliedert, daß sie beinahe vergessen hätte, daß er an Bord war.
Arakasi wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Tor zu. »Es heißt, in unfriedlichen Zeiten beziehen dort Bogenschützen der Minwanabi mit ölgetränkten Stoffetzen Stellung, um jedes Boot zu beschießen, das flußaufwärts kommt. Eine gute Verteidigungsmöglichkeit.«
»So langsam, wie wir uns bewegen, könnte wohl niemand von dieser Seite her auf den See der Minwanabi gelangen und am Leben bleiben.« Mara warf einen Blick nach achtern auf die schäumende Strömung. »Aber wir könnten ganz sicherlich schnell genug fliehen.«
Arakasi schüttelte den Kopf. »Schaut nach unten, Mistress.«
Mara lehnte sich über die Bordwand der Barke und sah ein riesiges, geflochtenes Tau. Es war an den beiden Säulen des Tors befestigt und hing nur wenige Zentimeter unter dem flachen Kiel des Bootes. Sollte es ein Problem geben, konnte ein Mechanismus im Torturm das Tau heben, so daß es wie eine Barriere jede Barke an der Weiterfahrt hinderte. »Diese Art der Verteidigung ist für ein fliehendes Boot genauso tödlich wie für jede angreifende Flotte.«
»Und es wäre klug von mir, das im Kopf zu behalten, nicht wahr?« Mara löste ihre feuchten Finger aus dem Stoff des Gewandes, das sie zuvor unklammert hatte. Sie versuchte ihr Gefühl von Unbehaglichkeit unter Kontrolle zu behalten und gab Arakasi mit einer höflichen Handbewegung zu verstehen, daß er sich entfernen sollte. »Ich werde mir Eure Warnung zu Herzen nehmen, Arakasi. Aber sagt nichts davon zu Nacoya, denn sie würde sonst so laut kreischen, daß es den Frieden der Götter stört!«
Der Supai erhob sich mit einem Grunzen, hinter dem sich ein Lachen verbarg. »Ich brauche nichts zu sagen. Die alte Mutter sieht jede Nacht
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