Die Stunde der Wahrheit
Messer unter ihrem Bett liegen.« Er senkte seine Stimme. »Ich habe beobachtet, wie sie sechsmal ihre Kopfkissen und Decken umdrehte, selbst dann noch, als Papewaio längst ihre Bettstatt untersucht hatte.«
Mara entließ ihn mit etwas mehr Nachdruck – sie war nicht in der Lage, seinen Humor zu teilen. Nacoya war nicht die einzige, die Alpträume hatte. Als die Barke sich weiterkämpfte und der Schatten des »Gebetstores« auf sie fiel, erschauderte sie unter einem Frösteln, als hätte sie den Atem Turakamus gespürt.
Steinerne Fundamente warfen die Geräusche der gegen die Strömung ankämpfenden Barke zurück. Dann brannte das Sonnenlicht wieder auf sie herab, grell und blendend nach der Dunkelheit. Mara blickte durch den Gazevorhang am Vordach hinaus und wurde mit einem völlig unerwarteten Anblick konfrontiert.
Das Panorama, das sich vor ihren Augen ausbreitete, war atemberaubend schön. Das Herrenhaus lag im Scheitelpunkt eines breiten Tals auf der gegenüberliegenden Seite eines großen Sees und erinnerte an einen magischen Ort aus einem Kindermärchen; jedes Gebäude war in Form und Farbe vollkommen. Das Herzstück war ein unglaublich alter Palast aus Stein, der auf einem Hügel mit Blick auf den See gebaut worden war. Niedrige Mauern wanden sich den Hügel hinab, zwischen terrassenförmig angelegten Gärten und kleineren Gebäuden, von denen viele zwei-oder dreistöckig waren. Das Gut der Minwanabi war wahrhaftig ein eigenes Dorf aus Bediensteten und Soldaten, alle Jingu treu ergeben. Doch was für ein wunderbarer Ort, dachte Mara. Und sie konnte sich eines kurzen Anflugs von Neid nicht erwehren, daß ein so erbitterter Feind in solchem Glanz lebte. Die Brise vom See würde das Haus selbst in den heißesten Monaten kühlen, und eine kleine Flotte aus orangefarbenen und schwarzen Stechkähnen ging auf Fischfang, damit der Lord der Minwanabi immer frischen Koa-Fisch zum Essen hatte. Als die Sklaven die Staken gegen Ruder austauschten, um die Barke über den See zu bringen, tauchte ein weit nüchternerer Gedanke in Maras Kopf auf: Das Tal war wie ein Flaschenhals, leicht zu verteidigen und noch einfacher zu verschließen. Wie die giftige Flaschenpflanze, die Insekten verschlang, indem sie sie mit süßen Gerüchen anlockte, machte die Form dieses Tals jede Hoffnung auf schnelle, unbemerkte Flucht zunichte.
Auch Papewaio hatte dies erkannt, denn er forderte seine Krieger auf, die Waffen anzulegen, als sich ein anderes Boot näherte. Die große Barke geriet schnell in Sichtweite und enthüllte ein Dutzend Bogenschützen der Minwanabi mit einem Patrouillenführer an ihrer Spitze. Er grüßte und befahl ihnen mit einer Handbewegung, die Ruder einzuziehen. »Wer kommt in das Land der Minwanabi?« fragte er, als die Barken sich einander näherten.
Papewaio rief hinüber: »Die Lady der Acoma.«
Der Offizier der Minwanabi grüßte. »Ihr dürft passieren, Lady der Acoma.« Er gab seinen eigenen Ruderern ein Zeichen, und die Barke der Minwanabi nahm ihre Patrouille wieder auf.
Arakasi zeigte auf drei weitere solcher Barken. »Sie haben überall auf dem See Bogenschützen verteilt.«
An Flucht vom Sitz des Lords der Minwanabi war eindeutig nicht zu denken. Es blieb nur Sieg oder Tod. Mara spürte ihre Handflächen feucht werden, doch sie widerstand der Versuchung, sie an ihrem Gewand abzuwischen. »Sehen wir zu, daß wir schnell zum Haus kommen, Pape.«
Papewaio gab dem Barkenmeister ein Zeichen, und die Sklaven nahmen die Ruder wieder auf.
Die Barke hielt auf den Hafen zu, und das Haus der Minwanabi erwies sich bei näherem Hinsehen als genauso schön, wie es schon von der anderen Seite des Sees aus gewirkt hatte. Jedes Gebäude war sorgfältig bemalt, wobei Pastellfarben gegenüber dem gewöhnlichen Weiß vorherrschten. Unbekümmert farbenfrohe Banner und hell beschirmte Laternen hingen von den Dachbalken und flatterten in der Brise. Der sanfte Klang von Windglockenspielen erfüllte die Luft. Selbst die Kieswege zwischen den Gebäuden waren mit beschnittenen Büschen und blühenden Pflanzen gesäumt. Mara erwartete, daß der Hofgarten im Innern des Guts üppiger und aufwendiger sein würde als jeder, den sie bisher gesehen hatte.
Die Ruderer der Acoma legten die Riemen ein, und einer warf eine Leiter in die Richtung des Arbeiters, der zusammen mit einer Begrüßungsgruppe aus Edlen am Dock wartete. Zuvorderst stand Desio, der älteste Sohn der Minwanabi. Sein Kopf war mit einer Kopfbedeckung aus Orange
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