Die Stunde der Wahrheit
denen auch noch jedes einzelne Mitglied der Blutslinie das Recht auf eine eigene Ehrenwache besaß, bestand ihre eigene Gruppe nur aus der Ersten Beraterin und Papewaio. Die anderen Lords und ihre Berater nahmen ihre Gegenwart oft nicht wahr, bis sie an ihnen vorbeigeschritten war, da Größe und Macht sich selten ohne Fanfaren zeigten. Häufig konnte Mara genug von den Unterhaltungen anderer mitbekommen, um das ungefähre Thema herauszufinden, bevor die Sprecher ihre Nähe wahrnahmen. Mehr als eine Gruppe flüsternder Gäste glaubte in den Erhabenen diejenigen wiederzuerkennen, die Almecho in der Versammlung der Magier bei seiner Kampagne gegen die barbarische Welt unterstützt hatten. Einige andere Magier wurden mittlerweile regelmäßig mit dem Kriegsherrn gesehen und hatten sich den Spitznamen »Schoßmagier des Kriegsherrn« eingehandelt. Die Kapuzen verdeckten ihre Gesichter und erschwerten den Versuch zu entscheiden, um welche beiden Magier es sich jetzt handelte. Doch wenn diese beiden hier Ergoran und sein Bruder Elgahar waren, würden mehr als nur die Pläne eines einzelnen Lords einen Rückschlag erleiden.
Als die Xacatecas anfingen, sich zu verbeugen, reagierte Mara auf Nacoyas mütterlichen Druck und ging zum Podest. Kamatsu von den Shinzawai und sein Sohn schlossen sich hinter ihr an, als sie die Stufen emporstieg; dann gingen die Xacatecas, und sie sah sich Almecho und ihrem Gastgeber, Jingu von den Minwanabi, gegenüber.
Die Erhabenen blieben an einer Seite stehen, ihre einzigartige soziale Rangstufe nahm sie von jeder formellen Rolle in der Begrüßungszeremonie aus. Doch als sie sich verbeugte, konnte Mara einen deutlichen Blick auf einen von ihnen werfen und erkannte die gekrümmte Nase und die dünnen Lippen Ergorans unter der schwarzen Kapuze. Der Kriegsherr ergriff ihre Hand, als sie sich erhob, und ein leicht sarkastischer Zug stahl sich in sein Lächeln, als er seinerseits den rituellen Begrüßungsspruch aufsagte. Er hatte augenscheinlich ihr letztes Treffen nicht vergessen, als sie pflichtgemäß die Worte Buntokapis bezüglich der Needra-Ställe wiedergegeben hatte. Die Etikette hinderte ihn allerdings daran, das Thema anzuschneiden, da der Ritus des Selbstmords den Fleck auf der Ehre der Acoma wieder beseitigt hatte. Doch nichts hielt den Kriegsherrn davon ab, ein Gespräch zu beginnen, das Mara einiges Unbehagen verschaffte.
»Lady Mara, welch eine unerwartete Freude. Ich sehe mit Freude, daß Ihr den gleichen persönlichen Mut besitzt wie Euer Vater – und in dieses Nest von Feinden marschiert seid.« Er hielt noch immer ihre Hand und streichelte sie in einer väterlich begütigenden Geste, während er sich Jingu von den Minwanabi zuwandte. Sein Gastgeber hielt mühsam seine Wut zurück, er war über die letzte Bemerkung genauso erschüttert wie Mara. »Jingu, Ihr plant doch nicht etwa, meine Geburtstagsfeier durch Blutvergießen zu verderben, nicht wahr?«
Der Lord der Minwanabi wurde tiefrot, als er zu einer Entgegnung ansetzte, doch Almecho schnitt ihm das Wort ab. Er wandte sich wieder Mara zu. »Sorgt nur dafür, daß Euer Leibwächter einen leichten Schlaf an Eurer Tür hat, Lady. Jingu weiß, er macht mich sehr wütend, wenn er bei Eurer Ermordung nicht die äußere Form wahrt.« Er warf einen Blick auf seinen Gastgeber. »Ganz davon zu schweigen, daß er seinen Gästen Sicherheit versprochen hat und es nicht sehr effektiv wäre, Euch zu töten, wenn er sich ebenfalls das Leben nehmen müßte, wie?«
Der Kriegsherr lachte. In dieser Sekunde wußte Mara, daß das Große Spiel tatsächlich nur ein Spiel für diesen Mann war.
Wenn es Jingu gelang, die Lady der Acoma in einer Weise umzubringen, in der er öffentlich die Verantwortung dafür von sich weisen konnte, würde der Kriegsherr nicht nur keinen Anstoß daran nehmen, sondern ihm auch noch insgeheim zu seiner Schlauheit gratulieren. Selbst wenn Jingu versagte, war die ganze Situation für Almecho nichts als eine abwechslungsreiche Unterhaltung. Schweiß bildete sich auf Maras Rücken. Sie zitterte trotz ihrer Bemühung um Selbstbeherrschung, und nahe an ihrem Ellbogen flüsterte der zweite Sohn der Shinzawai seinem Vater etwas zu. Almechos Augen zogen sich zusammen; Maras Gesicht mußte aschfahl geworden sein, denn der Kriegsherr drückte ihre Hand.
»Macht Euch keine Sorgen, kleiner Vogel; Jingu überrascht uns vielleicht alle und benimmt sich.« Almecho grinste breit. »Die Wetten stehen günstig, daß Ihr eine kleine
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