Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
aufrechterhalten, dass er tot ist?«
»Damit sich nichts verändert. Es wird weiterhin Knochen als Beweis geben. Und wenn Liam sich volle sechs Monate versteckt hält, bis zu dem Augenblick, in dem wir zurückgehen, um ihn zu retten, wird die Tatsache, dass er in Wahrheit noch am Leben ist, die Zeitachse nicht beeinflussen. Wahrscheinlich.« In seiner Stimme war ein vager Hoffnungsschimmer auszumachen.
»Also wenn es jemals ein Ereignis gab, das ohne irgendeine weltverändernde Nebenerscheinung geändert werden könnte, dann ist es dieses?«, fragte ich und verdrängte den Gedanken an irgendwelche Leichenteile.
»So ist es. Vor allem, weil nie eindeutig bestätigt wurde, dass die paar Knochen, die im Labor gefunden wurden, tatsächlich Liams waren.«
Nachdenklich trank ich einen Schluck Wasser. »Bei Liams Rettung geht es um mehr, als Landers aufzuhalten, nicht wahr?«
»Liam war wie ein Vater für mich. Der einzige Vater, den ich je hatte.«
»Ich verstehe, warum du ihn ins Leben zurückholen möchtest.« Michaels richtiger Vater hatte ihn im Stich gelassen, und dann war sein Ersatzvater ermordet worden. Da hätte ich auch Gerechtigkeit gewollt.
»Ich will es nicht nur für mich tun, sondern für seine Frau, seinen Sohn und all die Leute, denen er geholfen hat, und für all jene, denen er in Zukunft helfen könnte. Bevor ich ihm begegnet bin, hab ich nicht geahnt, wie viel Gutes ein einzelner Mensch bewirken kann.«
»Ich verstehe.«
Seine Augen mit den langen geschwungenen Wimpern blickten mich ernst an. »Ich weiß. Dein zukünftiges Ich hat es auch verstanden. Was meinst du, wer mir vom Nowikow-Prinzip erzählt hat?«
Obwohl ich wirklich verstand – wahrscheinlich besser als die meisten anderen –, warum er das Leben eines geliebten Menschen retten wollte, konnte ich seine Worte nicht begreifen. Das Beben, das mein Inneres erschütterte, machte es mir schwer zu atmen.
»Du wolltest Antworten. Du hast sie gerade bekommen«, sagte er und rückte näher, was meine Atembeschwerden noch verschlimmerte. »Bereust du, dass du gefragt hast?«
»Du sprichst davon, einen Toten zurück zu den Lebenden zu holen«, sagte ich leise.
»Ich weiß, es ist unglaublich.« Michael ergriff meine Hände. »Aber es ist wahr.«
»Und ich konnte schon kaum fassen, dass Zeitreisen tatsächlich möglich sind.«
Ich versuchte, klar zu denken, aber solange er mich berührte, war mir das unmöglich. Ich schaute zu ihm auf, und tausend unausgesprochene Worte schossen zwischen uns hin und her. Je länger er meine Hände hielt, desto intensiver wurde unsere Verbindung.
»Ich muss darüber nachdenken.« Ich zog meine Hände zurück und rutschte ans andere Ende des Sofas, wo ich langsam ausatmete und die Augen schloss. Mein Gehirn war in den letzten paar Tagen so stark beansprucht worden, dass ich mich fragte, ob es überhaupt in der Lage war, noch mehr aufzunehmen.
Die Möglichkeit, den Ablauf der Zeit zu verändern, kreiste in meinem Kopf herum. Einen Menschen, den man liebte, von den Toten zurückzuholen. Ich fragte mich, ob allein der Gedanke daran das Universum auf den Kopf stellte und ein grausameres Schicksal herausforderte als je zuvor.
Erschöpft und überwältigt schlief ich ein.
24. KAPITEL
D ie gläserne Drehtür wirbelt schneller und schneller im Kreis, fegt arktische Luft und Tannenduft herbei. Ich sehe, wie sie sich aus dem Gebäude herauslöst, sich weiterdreht und zu einem schneebedeckten Schlitten wird, der von zwei schwarzen Pferden gezogen wird. Kaum ist er aufgetaucht, stürzt er auch schon in eine Schlucht, und es bleibt nichts von ihm als gellende Schreie und eine senfgelbe, schwefelige Rauchwolke. Neben mir steht eine Gestalt, ein Körper ohne Gesicht, an Stelle der Augen sind nur Löcher mit glühenden Kohlen.
»Nein! Nein!« In kaltem Schweiß gebadet fuhr ich hoch. Michael saß immer noch neben mir. Zitternd kroch ich auf seinen Schoß, zu verängstigt, um mich zu schämen. Die elektrische Strömung zwischen uns kehrte auf der Stelle zurück. Diesmal war sie tröstlich statt beunruhigend. Nur mit größter Mühe gelang es mir, meinen keuchenden Atem so weit zu beruhigen, dass ich wieder halbwegs im Stande war, Wörter zu formen.
»Entschuldigung«, krächzte ich heiser. »Alles okay.«
»Lügnerin.« Michael wiegte mich tröstend hin und her. Ausnahmsweise schien es ihn nicht zu kümmern, wie nah wir einander waren. Mich kümmerte es auch nicht.
Ich schmiegte die Stirn an seine Schulter.
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