Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
der Hand. »Ich will dir nichts verheimlichen. Diese… Sache… mit Michael ist verdammt kompliziert. Bitte glaub mir.«
»Schon gut. Ich verstehe. Aber eins musst du mir verraten. Ist er von seiner Art her genauso heiß wie die Verpackung?«
Ich lächelte wissend, bevor ich einen Herzanfall nachäffte, indem ich mir die Hände auf die Brust presste und ein paar Schritte nach hinten taumelte, bis ich den Tresen im Rücken hatte. Theatralisch sackte ich unter dramatischen Zuckungen in die Knie und platzte los vor Lachen.
»Du hast sie nicht alle«, sagte Lily und half mir lachend wieder auf die Beine. Ich reichte ihr das Geschirrtuch und nahm mir einen Pappbecher vom Stapel. Nach der langen Nacht fing ich langsam an zu schwächeln. Das Zusammensein mit Michael hatte mich wach gehalten, und jetzt, da er nicht da war, sackte ich zusammen wie nach dem Abebben eines Adrenalinschubes.
»Kann ich eine Sekunde ernsthaft mit dir reden?« Ich zog am Hebel der Kaffeemaschine, mit der ich mir eine starke Mischung aufbrühte, und sog den köstlichen Duft ein.
»Was gibt’s?«
»Fragst du dich manchmal, wie dein Leben sein würde, wenn deine Eltern hier wären statt in Kuba?«
»Ja.« Sie zog die Barhocker hervor, die sie hinterm Tresen stehen hatte, falls es ein bisschen ruhiger war und man sich ein paar Minuten setzen konnte. »Ständig. Fragst du dich, wie es wäre, wenn deine noch am Leben wären?«
»Ja klar.« Ich kletterte auf den Hocker. Bei Lily mit ihren langen Beinen wirkte alles so mühelos. Ich hätte fast eine Trittleiter gebrauchen können. »Ich frage mich das auch wegen der Depressionsgeschichte. Wenn der Unfall nie passiert wäre, wenn meine Eltern dagewesen wären, um mir zu helfen – ob ich dann wohl mit allem besser klargekommen wäre?«
»Das wirst du nie erfahren. Und du kannst die Zeit nicht zurückdrehen. Niemand kann das.«
Ich sah keinen Sinn darin, sie zu korrigieren.
»Du weißt ja gar nicht, ob du wegen deiner Lebenssituation mit der Depression zu kämpfen hattest oder ob es körperliche Ursachen dafür gab. Vielleicht war es nicht das letzte Mal. Deshalb musst du alles tun, um gesund zu bleiben, ob weitere Therapiestunden dafür nötig sind oder was auch immer.« Sie warf die Hände in die Luft. »Schweißtreibendes Training … Ich weiß es auch nicht.«
Wir mussten beide lachen. Lily wusste, dass ich nicht gern über meine Depressionen sprach, aber wenn das Thema auf den Tisch kam, gab sie sich immer große Mühe, mir Mut zu machen und meine Entscheidungen zu respektieren. Ein weiterer Grund, sie gernzuhaben.
»Was hältst du von übernatürlichen Sachen?«
Sie runzelte die Stirn. »Du meinst Werwölfe, Geister und so?«
»Vielleicht, aber ich denke eher an Superhelden – mit besonderen Fähigkeiten, wie Gedankenlesen oder die Zukunft vorausahnen.«
Oder Zeit manipulieren.
»Hast du gestern Abend dein Glas unbeobachtet stehen lassen? Hat dir jemand was in die Cola gekippt?«
»Ich mein’s ernst, Lily.«
Sie knabberte am Nagel ihres kleinen Fingers. »Ich hab keine Meinung zu solchen Sachen«, sagte sie schließlich.
»Du musst eine Meinung dazu haben«, beharrte ich. »Willst du mir wirklich erzählen, du hättest noch nie darüber nachgedacht?«
»Nein, habe ich nicht. Und ich will auch jetzt nicht darüber nachdenken«, sagte sie entschieden.
»Hey, ist ja gut.« Ich hatte noch nie erlebt, dass Lily auf eine einfache Frage so reagierte. »Ich war nur neugierig.«
»Wann siehst du dein Sahneschnittchen wieder?« Lily faltete das Geschirrtuch auf ihrem Schoß zusammen.
»Wir wollen uns hier treffen und dann zusammen zu Thomas gehen. Er war nicht begeistert, dass seine kleine Schwester die Nacht außer Haus verbracht hat.«
»Wenn dein Bruder eine Knarre hat, solltest du deinem Schnuckelchen lieber eine schusssichere Weste besorgen. Der Junge ist viel zu hübsch, um durch eine Kugel im Bauch verunstaltet zu werden.«
»Nein, nein.« Die Vorstellung, mein gesetzestreuer Bruder könnte eine Feuerwaffe in der Hand haben, brachte mich zum Lachen. »Thomas hat keinen Revolver. Wenn wir ihm alles vernünftig erklären, hat er sicher Verständnis.«
Zumindest hoffte ich das.
»Du willst ihm erklären, wie ihr die Zeit vergessen habt?«
»Ähm … Ja.«
Jahrelang war ich immer meine einzige Vertraute gewesen. Ich wusste nicht mehr, wie es war, alles, was mich bewegte, einer guten Freundin anzuvertrauen, und jetzt wünschte ich mir nichts sehnlicher, als Lily alles zu
Weitere Kostenlose Bücher