Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
er nicht hier im Raum ist?«, schlug ich vor, weil ich nicht über meine Rivalin diskutieren wollte.
»Okay.« Er legte den Bleistift weg. »Ich glaube, er gibt sich nach außen so hart, weil sein Inneres so empfindsam ist. Alles an ihm – sein Äußeres, seine Kleidung – soll eine bestimmte Wirkung erzeugen. Er versucht, Distanz zu anderen Menschen zu halten, damit er ihre Gefühle nicht teilen muss. Was seinem Vater zugestoßen ist, war schlimm genug. Mit dem Zusammenbruch seiner Mutter klarzukommen, hat ihn fast umgebracht.«
»Kann er ihre Emotionen auch jetzt noch fühlen?«
»Nein. Nicht seit dem Selbstmordversuch. Er gibt sich die Schuld daran, weil er es nicht kommen gesehen hat.«
Kaleb tat mir unsagbar leid. Sein Vater war tot, aber seine Mutter lebte, und dennoch konnte er sie nicht erreichen. Zumindest brauchte er nicht an ihrem Umnachtungszustand teilzuhaben. Ihn mit anzusehen, musste schlimm genug sein.
»Teil seines Problems ist, dass er nicht immer erkennen kann, warum die Menschen fühlen, was sie fühlen. So kommt es zu Fehldeutungen, und er bezieht ihre Gefühle auf sich, um später herauszufinden, dass sie auf jemand anders gerichtet sind.« Michael rollte den Bleistift hin und her. »Er hat mir mal gesagt, dass er so gerne schwimmt, weil Gefühle sich durch das Wasser nicht übertragen können. Es ist seine einzige Rückzugsmöglichkeit.«
Dann hätte ich mir auch einen Pool im Garten gewünscht. »Warum ist er so ausgeflippt, als du uns bekanntgemacht hast? Ich dachte, er hätte von mir gewusst.«
»Wusste er auch. Deine Anwesenheit bestätigt, dass du bei dem Versuch, Liam zu retten, dabei bist.«
Auf der Treppe waren Schritte zu hören, und Michael legte den Finger auf die Lippen. Kaleb trat durch die offene Tür und hielt sich die Hand vor die Augen, um sie vor dem Sonnenlicht zu schützen.
»Du siehst schon wieder etwas besser aus«, sagte Michael und zog die Jalousien herunter.
Viel besser. Er hatte geduscht und saubere Sachen angezogen. Allein geruchsmäßig war es eine unglaubliche Verbesserung. Er sah von einem zum anderen, bevor er seinen Blick auf mir ruhen ließ.
Mir wurde heiß.
»Entschuldige wegen eben. Ich bin nicht richtig bei Verstand. Was ich nicht verstehe«, sagte er mit einem Seitenblick auf Michael. »Ich schwöre, ich hab nur zwei Bier getrunken.«
Michael zog die Brauen hoch und setzte sich, ohne etwas darauf zu erwidern, aufs Bett.
»Ich schwör’s«, beharrte Kaleb mit tiefer, rauer Stimme. »Weißt du noch … äh, mit wem ich zusammen war, als du mich gefunden hast?«
»Groß, dunkle Haare, durchgeknallter Blick. Sie wollte dich nicht ziehen lassen.«
»Amy. Nein, Ainsley.«
»Deine neue Freundin?«, wollte Michael wissen.
»Nein.« Kaleb sah in meine Richtung.
»Zufallsaufriss?«
»Mike. Wir sind in Damengesellschaft.«
»Besser sie lernt dein wahres Ich gleich kennen.«
»Ich will aber nicht, dass sie voreilige Schlüsse zieht«, zischte Kaleb durch die Zähne.
»Du wirst es überleben.« Michael fasste mich am Ärmel und zog mich neben sich auf die Bettkante. Er deutete auf den Schreibtischstuhl. »Hinsetzen.«
Kaleb gehorchte.
Aber er schien nicht glücklich zu sein.
Sein breites Lächeln verschwand, seine Miene nahm einen grimmigen, verschlossenen Ausdruck an. Seine Augen waren von Nahem sogar noch schöner und ließen sein Gesicht weicher wirken. Dennoch wäre ich ihm noch immer nicht gern im Dunkeln begegnet. Michael hatte Kaleb als harten Hund bezeichnet, aber das wurde ihm nicht annähernd gerecht.
Er war einfach ein Furcht einflößender Typ.
»Keine Sorge, Mike.« Kaleb versuchte, die Missstimmung zu zerstreuen, aber seine Stimme klang angespannt. »Keine Verpflichtungen. Keine Haken und Fallstricke.«
»Ich weiß.« Michaels Worte klangen herausfordernd. Am liebsten hätte ich ihm den Mund zugehalten. Irgendetwas sagte mir, dass ich nicht in der Nähe sein wollte, wenn sie Streit bekamen. »Wie bei all deinen Beziehungen. Immer schön unverbindlich. Und wenn’s ernst wird, nichts wie weg.«
»Pass bloß auf!«, sagte Kaleb und trat auf Michael zu. »Ich brauche keinen großen Bruder oder Babysitter.«
»Gestern Nacht schon.«
Zwischen die Jungs zu gehen, war genauso schlau wie in einen Boxring zu springen, aber ich tat es trotzdem und legte beiden die Hand auf die Brust. Selbst im Eifer des Gefechts entging mir nicht, wie durchtrainiert sie sich anfühlten.
»Stopp!«, krächzte ich. »Stopp! Ihr wollt doch wohl
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