Die Stunde der Zikaden
Gedanken versunken, dass er zusammenschreckte, als Laura neben ihn trat. Wieder sah sie ihn nur fragend an, ohne etwas zu sagen, wofür er ihr sehr dankbar war.
«Siehst du diese kleine Mauer?», hörte er sich reden und wusste, dass er auf der Flucht war. «Hier habe ich als kleiner Junge Pinienkerne geknackt. Frisch schmecken sie am besten. Man bekommt rotbraune Finger, wenn man sie aus ihrer zarten Haut pellt. Sie sind ein bisschen süß und riechen wie Harz. Wenn ich ganz viele zusammenhatte, habe ich sie meiner Mutter gebracht, und die hat Apfelkuchen mit Pinienkernen gebacken.»
Laura sagte noch immer nichts, und Guerrini fürchtete, dass er sie möglicherweise enttäuscht hatte mit dieser ersten kleinen Geschichte aus vergangenen Zeiten, dass sie seine Flucht durchschaute. Jetzt lächelte sie und hob einen dicken Pinienzapfen auf, der auf dem Rasen lag. «Wir können es ja später gemeinsam versuchen. Ich habe mir immer auf die Finger gehauen, wenn ich Pinienkerne aufgeschlagen habe. Vielleicht hast du eine bessere Technik?»
«Du hast auch Pinienkerne geknackt?»
«Natürlich. Meine Eltern und ich waren häufig in Italien. Schließlich war meine Mutter Florentinerin. Sie hat auch Apfelkuchen mit Pinienkernen gebacken. Einen ganz dünnen, runden Kuchen mit einer feinen Schicht süßer Gelatine obendrauf, damit die Pinienkerne nicht runterfielen.»
Guerrini spürte ihren Körper neben sich so intensiv, als umarmten sie sich noch immer.
«Bene», murmelte er, drehte sich um und schloss die Terrassentür ab. Dann nahm er Laura an der Hand und führte sie über den kleinen Parkplatz zum Ufer des Baches, der hinter dem Haus vorbeifloss. Es war der Bach, der ein paar hundert Meter weiter nördlich ins Meer mündete. Hier war er in ein Betonbett eingeschlossen, sein Wasser floss schnell und war braun von Sedimenten, die der heftige Regen der letzten Tage aus der Erde gewaschen hatte.
«Ich wusste es doch!» Guerrini fühlte heftige Wut in sich aufsteigen. «Sie haben ihn zubetoniert. Natürlich! Schon vor dreißig Jahren haben sich die feinen Villenbesitzer über die Frösche beschwert, die nachts gequakt haben, und über die Mücken und über den Sumpf und über alles! Willst du wissen, wie es hier früher aussah?»
Laura nickte.
«Es war ein Paradies. Ich war der Entdecker Afrikas, habe hier die Seitenarme des Amazonas erforscht und die Kopfjäger von Borneo verfolgt. Ich bin diesen Bach mit einem Schlauchboot raufgefahren. Das Schilf war meterhoch, ich bin immer wieder an Wurzeln und umgefallenen Stämmen hängen geblieben. Am Ufer haben sich Wasserschildkröten gesonnt, überall waren Frösche, und es hat geraschelt. Ich weiß noch, dass ich richtig Herzklopfen hatte, es war das reine Abenteuer.»
Am liebsten hätte er denjenigen verprügelt, der für diese Schweinerei verantwortlich war. Mit Sicherheit hatte Enrico di Colalto etwas damit zu tun. Schließlich gehörten ihm mindestens vier der Häuser zwischen Bach und Meer. Er hätte nicht zurückkommen dürfen. Er hatte diese verdammte sentimentale Vorstellung gehabt, dass hier die Zeit stehengeblieben sein könnte. Dass er mit Laura darin eintauchen und für zwei Wochen verschwinden könnte. Zu den Kopfjägern von Borneo oder im Regenwald des Amazonas. Einfach weg!
«Ja», sagte Laura leise dicht neben ihm, «ich kann es mir vorstellen, dein Abenteuerparadies.»
Konnte sie wirklich? Er hatte ja selbst Schwierigkeiten, sein Paradies zurückzuholen. Sie sah traurig aus. Er war auch traurig, nicht nur wütend, sondern sehr traurig. Ihm war, als wäre jemand gestorben, der ihm sehr nahe stand, und er fürchtete, dass es ein Teil seiner selbst war. Schnell weg hier!
«Komm weiter!»
Der sandige Weg am Ufer des schmalen Kanals sah noch so aus wie früher, war gesäumt von Pinien und Macchia. Auch die geschwungene Ziegelbrücke gab es noch. Auf dieser Brücke hatten er und Colalto sich mit Mädchen getroffen. Und immer waren es vor allem Colaltos Mädchen gewesen, weil er älter war und ein Colalto. Er selbst war immer zu jung und eben kein Colalto gewesen. Auch das waren Abenteuer, Kopfjäger- und Raubtiergeschichten. Voller Niederlagen. Aber das erzählte er Laura nicht. Nicht jetzt.
Die hohen Eukalyptusbäume auf der anderen Seite der Brücke hatten den Sturm überlebt und auch die letzten dreißig Jahre. Immerhin etwas. Plötzlich hatte Guerrini das Bedürfnis, Laura etwas Lustiges zu erzählen. Aber wenn er ehrlich war, dann fiel ihm vor allem ein,
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