Die Stunde der Zikaden
war einfach ein Karton. Orecchio umrundete den Tisch, griff dann nach einem Küchenmesser, legte es wieder weg, schenkte sich ein Glas Weißwein ein und trank es in einem Zug aus.
Vielleicht waren sie bei seiner Mutter gewesen, und sie wollte deshalb mit ihm reden. Vielleicht hatte sie eine Nachricht für ihn, eine Warnung, eine Botschaft. Er horchte Richtung Wohnungstür, doch da war es inzwischen still geworden. Sie hatte aufgegeben. Schnell. Dann konnte es nichts Wichtiges sein. Wenn es wichtig wäre, dann würde sie mit beiden Fäusten gegen die Tür hämmern, bis Signora Crestina aus dem zweiten Stock zu schimpfen begann, und anschließend würden die beiden streiten, bis er die Nerven verlor und die Tür aufmachte, nur um endlich seine Ruhe zu haben.
Wieder nahm er das Messer in die Hand, knipste das Licht an. Der Karton war mit breiten Klebebändern verschlossen. Mit mehreren Schichten von Klebebändern. Er hatte eine Rolle davon in seinem Werkzeugkasten, es würde kaum Mühe machen, das Paket wieder zu verschließen. Keiner würde sehen, dass es geöffnet worden war.
Und wenn doch? Vielleicht gab es irgendeine Sicherheitsvorrichtung an dem Paket, so was wie ein Siegel. Orecchio ging neben dem Küchentisch auf und ab. Jetzt erst bemerkte er, dass seine Kleidung an ihm klebte und noch immer Schweiß über seine Schläfen lief. Er wischte sich mit einem Küchentuch ab, ekelte sich vor sich selbst, er hasste Schweißgeruch, schweißnasse Hände, schweißfeuchte Hemden.
Er trank ein zweites Glas Weißwein. Dann atmete er tief ein und begann, vorsichtig die Klebebänder vom Karton zu lösen. Während er arbeitete, war er in Gedanken ständig auf der Flucht vor seinem eigenen Tun. Er sah sich selbst dabei zu, wie er etwas machte, das er eigentlich nicht wollte, und doch konnte er nicht anders. Er wollte wissen, was die überhaupt machten, warum die so viel Geld hatten, dass sie fünfhundert Euro dafür zahlen konnten, dass er eine Schranke öffnete!
Plötzlich ging es ganz schnell. Er durchtrennte das letzte Band und zog es vom Papier ab. Jetzt konnte er den Karton einfach aufklappen.
Schon wieder lief sein Schweiß in Strömen, tropfte sogar auf das Paket. Er rubbelte sein Haar mit dem Küchentuch, trocknete auch seine Handflächen. Dann tastete er über die Schaumstoffchips, griff mit den Fingern hinein und stieß auf etwas Hartes. Mit beiden Händen schaufelte er die Chips auf den Küchentisch, bis er endlich den harten Gegenstand freigelegt hatte. Er war in durchsichtige Luftpolsterfolie gewickelt, und er war schwer. Orecchios Herz klopfte heftig, als er das Ding aus dem Karton hob und zwischen die Chips auf den Tisch legte. Die Folie war nur mit Tesafilm befestigt. Im nächsten Augenblick lag etwas vor ihm, das ihn völlig verblüffte: ein massiver Stierkopf aus Bronze oder einem ähnlichen Metall. Der Kopf war ziemlich groß, Orecchio brauchte zwei Hände, um ihn zu umfassen. Es war eine feine Arbeit, sehr naturgetreu und trotzdem irgendwie fremd. Alt vermutlich, sehr alt.
Orecchio legte den Stierkopf weg, setzte sich auf einen Stuhl und trank ein drittes Glas Wein. Erst danach war er in der Lage, das Paket weiter zu untersuchen. Er fand noch eine kleine Frauenfigur, ein abgebrochenes Ornament und eine Schale, deren Henkel ein geflügeltes Pferd war.
Von Kunst hatte Orecchio nicht viel Ahnung, aber ihm war völlig klar, dass dieser Stierkopf und die anderen Dinge normalerweise in Museen zu finden waren. Und er hatte auch schon eine Menge von Raubgrabungen gehört, schließlich lebte er in einer Gegend, die von antiken Stätten übersät war.
Er dachte an die Pakete, die er im Wald versteckt hatte, und wieder wurde ihm heiß. Das war Kunstraub oder so was. Im ganz großen Stil. Und er mittendrin, er, Ernesto Orecchio.
Wenn ich zur Polizei gehe, dann bin ich alles los. Meinen Job, den Extraverdienst von zehntausend im Jahr. Alles. Erdbeben. Dann hätt ich’s wieder, mein ewiges Erdbeben. Aber das lass ich nicht mit mir machen!
Absolut verlässlich sollte er sein. Empfohlen worden war er ihnen, von irgendwem. Konnten sie haben. Er war absolut verlässlich. Jetzt brauchte er nur noch einen Plan, wie er ihnen das beweisen konnte. Einen absolut verlässlichen Plan. Aber erst musste er eine Stunde schlafen und duschen. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, und jetzt war es schon halb drei Uhr nachmittags. Ihm war schwindlig, und in seinen Ohren dröhnte es. Mit zitternden Händen packte er die
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