Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
Vom Netzwerk:
dass er viel Angst gehabt hatte, damals in Il Bosco , selbst bei seinen einsamen Abenteuern auf dem kleinen Fluss.
    Um sie zu erleben, hatte er sich wegschleichen müssen. Ständig hatten seine Eltern ihn bewacht, so aufmerksam, dass er manchmal meinte zu ersticken. Es war die Zeit der Entführungen gewesen und die Zeit der Brigate Rosse , der Roten Brigaden. Die Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts.
    Des letzten Jahrhunderts … der Gedanke gefiel ihm nicht, irgendwie konnte er zu weit in die Zeitgeschichte zurückblicken.
    «Es gibt wunderschöne Anwesen hier», sagte Laura neben ihm. Sie waren weitergegangen, die schmale Straße entlang, deren Teerbelag an den Rändern bröckelte und in einen weichen Teppich von Piniennadeln überging. Es roch nach Rosmarin, Nadelbäumen und Meer. Unter den weiten Ästen der Schirmpinien, halb versteckt hinter Lorbeerbüschen, lagen die Villen, die er seit seiner Kindheit kannte. Viele protzig, andere der Landschaft angepasst, eher unauffällig. Aber alle teuer, exklusiv und ein bisschen geheimnisvoll.
    «Meistens stehen sie leer», erwiderte er leise. «Ich erinnere mich daran, dass die Besitzer in den Siebziger- und Achtzigerjahren in ganz kleinen Autos herumgefahren sind, winzigen Fiats, weil es damals lebensgefährlich war, seinen Reichtum zu zeigen. Die Wärter an der Pforte hatten Schnellfeuergewehre, und vor den Banken standen auch im ganzen Land Polizisten mit Gewehren.»
    Das war nicht lustig! Er hatte etwas Lustiges erzählen wollen.
    «Warte, hier rechts muss irgendwo ein privater Tennisplatz liegen. Da habe ich mit Freunden heimlich gespielt, wenn die Besitzer nicht da waren. Der alte Gärtner des Anwesens hat mit uns unter einer Decke gesteckt, er hat uns gewarnt, wenn Gefahr im Verzug war. Er war Kommunist!» Guerrini zog Laura hinter sich her über eine niedrige Mauer und durch einen Bambushain. Der Tennisplatz war noch da, eingefasst von einem hohen Drahtzaun. Der rote Sand war von einem Hauch Grün überzogen, die Netze hingen schlaff. Im Zaun hatten sich Laub und Äste verfangen.
    «Komm, lass uns spielen!» Laura öffnete das Tor und lächelte ihm zu.
    «Spielen?»
    «Ja, spielen! Ohne Schläger und Ball, nur mit unserer Phantasie.»
    «Bene, spielen wir.»
    Sie nahmen ihre Positionen ein.
    «Wer hat Aufschlag?», fragte Guerrini.
    «Du! Es ist dein Tennisplatz!»
    Er nickte, hielt den imaginären Ball hoch, ließ ihn fallen und schlug ihn mit Kraft über das Netz. Laura wich bis zum Zaun zurück, nahm den Ball an und parierte ihn. Sie spielten konzentriert, und nach einer Weile meinte Guerrini fast, den Aufschlag der Bälle zu hören. Irgendwann, nach zehn oder zwanzig Minuten, sie hatten die Zeit vergessen, ließ Laura den Arm sinken und schaute dem Ball nach, der über den hohen Zaun flog und ins Gebüsch fiel.
    «Das war’s wohl. Leider haben wir nur den einen Ball», sagte sie, trat zum Netz und streckte ihm die Hand entgegen. Guerrini warf seinen Schläger hinter sich und schüttelte Lauras Hand.
    «Grazie, es war mir ein Vergnügen. Wer hat eigentlich gewonnen?»
    «Niemand.»
    Sie verließen den Tennisplatz und schlossen das Tor hinter sich.
    «Erinnerst du dich an den Film Blow Up ?», fragte Guerrini. Natürlich würde sie sich erinnern. «An die Schlussszene? Da spielen sie auch Tennis ohne Ball.»
    «Ich erinnere mich sehr gut. Wunderbar, wie da mit den verschiedenen Ebenen von Wirklichkeit gespielt wird, unglaublich leicht. Als ich den Film zum ersten Mal gesehen habe, vor vielen Jahren, war ich völlig verzaubert davon. Ich hab ihn übrigens kürzlich wiedergesehen, kam im Fernsehen.»
    «Ich auch, ich hab mir die DVD gekauft.»
    «Dann ist dir sicher aufgefallen, dass in diesem Film auch eine Leiche herumliegt, die irgendwann weg ist.» Laura lachte.
    «Natürlich, Commissaria. Und sie kam auch nicht wieder, die Leiche. Sie war einfach weg, und in unserem Fall ist es hoffentlich genauso!»
    Laura zuckte die Achseln und folgte ihm zwischen den verlassenen Villen hindurch zum Strand. Dort streckten sie sich im Sand aus und genossen die unvermutete Sonnenwärme. Plötzlich war es tatsächlich wie Urlaub. Trotzdem fühlte Guerrini sich noch immer unbehaglich. Er hatte einige Räume der Vergangenheit nur einen Spalt weit aufgemacht, den Vorhang kurz angehoben und schnell wieder fallen lassen. Er hatte den Eindruck, dass ganze Lawinen hinter diesem Vorhang lauerten, war dankbar, dass Laura nicht an den Vorhängen zog. Jedenfalls im Augenblick

Weitere Kostenlose Bücher