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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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von Schuld und Sühne hatte er begriffen. Oder besser: Man hatte ihn diesen Zusammenhang begreifen lassen. In der Kirche zum Beispiel war das ganz einfach zu verstehen gewesen. Es gab einen bestimmten Katalog von Sünden, die konnte man begehen und dann wieder beichten. Die Sühne bestand aus ein paar Gebeten.
    Zu Hause war es noch direkter, wenn er da etwas Falsches getan hatte, dann setzte es Prügel, oder er wurde eine Stunde lang auf dem Klo eingesperrt. In der Schule musste man nachsitzen. Die Geschichten, die Orecchio aus der Bibel kannte, hatten auch immer mit Schuld und Bestrafung zu tun. Die Sintflut zum Beispiel und die ägyptischen Plagen. Deshalb hatte er sich schon als kleiner Junge vor über dreißig Jahren gefragt, warum sein Dorf von einem Erdbeben zerstört worden war und wofür Gott seine Tante Amalia, seine Eltern, ihn und all die andern bestraft hatte. Bis heute hatte er es nicht herausgefunden.
    Und das Meer. Warum fraß es langsam, aber sicher das Land auf? Sogar die Fischer gaben allmählich auf – einer nach dem andern. Es lohnte sich kaum noch rauszufahren. Die paar Kisten Fisch, die sie zusammenfingen, deckten die Dieselpreise schon lange nicht mehr. Für Orecchio gab es da einen Zusammenhang, den er selbst nicht genau beschreiben konnte. Aber es hatte mit Sühne zu tun. Er fühlte sich unbehaglich, wenn er darüber nachdachte. Es fühlte sich genauso an wie das Wissen um das Paket unter der Decke auf seinem Rücksitz.
    Langsam lenkte er seinen Wagen an der Hafenpromenade entlang. Jetzt lagen in Portotrusco hauptsächlich teure Yachten im Hafen, und die Fischkutter rosteten an den Liegeplätzen hinter dem Marktplatz vor sich hin. Bis vor einem Jahr hatte Orecchio als Aushilfe auf einem dieser Kutter gearbeitet. Bei Carlo Tibero. Dem gehörten damals noch zwei Kutter, jetzt nur noch einer. War ein verdammt harter Job gewesen. Rausfahren um Mitternacht, auf dieses schwarze Meer, irgendwohin Richtung Korsika oder weiter südlich. Bei jedem Wetter. Orecchio war ziemlich oft seekrank geworden. Nur wenn das Meer ganz ruhig dalag, dann hatte er es gemocht, hatte sich zurückgelehnt und in den Himmel geschaut. Gab viele Sterne da draußen, viel mehr als an Land.
    Es war gut, jetzt darüber nachzudenken und nicht über das Paket auf dem Rücksitz. Stundenlang waren sie jede Nacht über das schwarze Meer gefahren, das Tuckern des Dieselmotors hatte ihn immer begleitet, auch wenn er an Land war. Er kriegte es einfach nicht mehr aus seinen Ohren. Und die Erde schwankte unter seinen Füßen, wenn er sie endlich wieder betrat. Sie schwankte, bis er um Mitternacht wieder an Bord ging. Und dann schwankte das Boot. Allmählich hatte er sich an dieses Schwanken gewöhnt. Sogar an das Schwanken an Land. Vielleicht lag auch das am Erdbeben seiner Kindheit. Irgendwie erschien es Orecchio natürlich, dass die Erde schwankte.
    Seit er vor einem knappen Jahr von Tibero entlassen worden war, schwankte die Erde nicht mehr, hatte wieder ihre trügerische Stabilität angenommen. Erst hatte Orecchio nicht recht weitergewusst. Außer schlechtbezahlten Gelegenheitsjobs war danach nicht viel passiert. Er hatte viel in den Bars am Hafen rumgehangen, mit anderen, die ohne Arbeit waren. Davon gab es ja jede Menge.
    Dann hatte ihm das Meer plötzlich gefehlt. Obwohl er den Fischgestank nicht vermisste und die zuckenden glitschigen Leiber, die sie mit ihren Netzen aus dem schwarzen Wasser zogen. Umgekehrtes Ertrinken, hatte er damals gedacht, wenn er den Fischen dabei zusah, wie sie nach Luft schnappten, die Kiemen spreizten. Ja, genau das war es wohl. Umgekehrtes Ertrinken. Fische ersoffen in der Luft. Menschen im Wasser.
    Wenn sie zurück im Hafen waren und die von der Fischfabrik die Kisten gewogen und in ihrem Kühllaster verstaut hatten, dann war es seine Aufgabe gewesen, den Kutter zu säubern. Von Schuppen, Eingeweiden, Tang. Der kalte, fischige Geruch hatte ihn genauso durch seine Tage begleitet wie das ewige Schwanken. Seitdem aß er keinen Fisch mehr. Sogar jetzt, in seinem Wagen, wurde ihm ein bisschen schlecht, wenn er an diesen Geruch dachte.
    Der Job als Wärter in Il Bosco war besser. Der war genau zu dem Zeitpunkt gekommen, als er wirklich nicht mehr weiterwusste und seine Miete nicht mehr bezahlen konnte. Irgendwer hatte ihn dem Resort empfohlen, obwohl Orecchio sich nicht erklären konnte, wer das gewesen sein sollte. War ja auch egal. Sie hatten gesagt, er sei empfohlen worden, und waren sehr freundlich

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