Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
Vom Netzwerk:
nicht.

 
    DREIMAL FUHR ER an seiner Wohnung vorbei, weil er nicht sicher war, ob ihn der blaue Lieferwagen verfolgte. Zweimal bog der genau hinter ihm in die nächste Seitenstraße ein, dann wieder nach links, und endlich kamen sie hintereinander wieder an Orecchios Wohnung vorbei. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen. Absolut niemand.
    Beim dritten Mal hupte und blinkte der blaue Lieferwagen. Orecchio war inzwischen durchgeschwitzt bis auf die Unterhose. Er hielt seinen Fiat an, schloss die Augen und versuchte ruhig zu atmen. Da waren sie also. Schnell und ohne Umwege. Sie wollten ihre Lieferung wiederhaben. Natürlich. Es war ja ganz natürlich. Weshalb regte er sich eigentlich so auf? Sie würden ihn fragen, wo die Lieferung sei, und er würde es ihnen sagen und sie hinbringen. So würde die Sache ablaufen. Und dann könnte er auch ganz unbemerkt das kleine Paket bei ihnen einladen und die ganze Sache wäre wieder in Ordnung. Seine Zuverlässigkeit erwiesen, sein Job gesichert. Je schneller die Sache über die Bühne ging, desto besser.
    Als sie an seine Scheibe klopften, machte er die Augen auf und war bereit.
    «Hab schon gedacht, ich erwisch dich nicht mehr, Kollege. Fährst du immer im Kreis?»
    Orecchio starrte in das Gesicht eines sommersprossigen, rothaarigen jungen Mannes mit sehr blauen Augen.
    «Was?»
    «Vergiss es! Aber nachdem du der einzige lebende Mensch in dieser gottverlassenen Ecke bist, könntest du mir vielleicht eine Frage beantworten: Wo ist denn die Viale delle Segreti?»
    «Segreti», wiederholte Orecchio und begriff noch immer nicht, was sie in der Viale delle Segreti suchten, wenn er doch vor ihnen saß.
    «Ja, Viale delle Segreti. Ich muss da ein paar Möbel abliefern. Bei einer Familie Amati. Kennst du die zufällig?»
    Orecchio schüttelte den Kopf.
    «Die Viale delle Segreti … die … die ist nicht hier. Die liegt auf der anderen Seite der Hauptstraße. Du musst wieder zurück und vor der Brücke rechts abbiegen.»
    «Ah, danke. Na, geht doch! Jetzt kannst du weiter im Kreis fahren! Ciao!»
    Orecchio blieb sitzen und beobachtete im Rückspiegel, wie der blaue Lieferwagen wendete und Richtung Hauptstraße verschwand. Sie waren es nicht gewesen. Vielleicht litt er an Verfolgungswahn, und alles war nur halb so schlimm. Wie in Zeitlupe drehte er den Zündschlüssel und fuhr seinen Wagen auf den kleinen Parkplatz vor dem rosafarbenen Haus, in dem er und seine Mutter zwei kleine Wohnungen gemietet hatten.
    Immerhin das hatte er geschafft: nicht in einer Wohnung mit ihr zu leben, sondern auf verschiedenen Stockwerken. Er im ersten Stock, sie im Parterre, mit Gemüsegarten und ein paar Hühnern und Kaninchen.
    Jetzt konnte er nur hoffen, dass sie nicht zu Hause war, aber sie war fast immer zu Hause und hörte jeden seiner Schritte. Orecchio stieg langsam aus dem Fiat, klappte die Rückenlehne des Fahrersitzes nach vorn, wickelte die alte Wolldecke um das Paket und hob es vorsichtig auf. Mit einem Fuß kickte er die Fahrertür zu und wandte sich zum Haus.
    «Bist du das, Ernesto?» Die Stimme seiner Mutter traf ihn wie ein Messer zwischen die Rippen. Er antwortete nicht, schlich zum Eingang, rannte die Treppe zum ersten Stock hinauf und suchte mit zitternder Hand nach seinem Wohnungsschlüssel. Als sie unten ihre Tür öffnete, fand er ihn. Beinahe hätte er das Paket fallen lassen.
    «Ernesto?!»
    Er steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete fast lautlos und betrat auf Zehenspitzen seine Wohnung.
    «Ernesto! Ich weiß, dass du da bist!»
    Sie war schon halb die Treppe herauf. Er drückte mit der Schulter die Tür zu, setzte das Paket auf dem Küchentisch ab, lief zur Wohnungstür zurück und legte den Sicherheitsriegel vor. Jetzt hörte er ihre Schritte, genau neben ihm schrillte die Türklingel.
    «Ernesto! Ich weiß, dass du mich hörst! Mach die Tür auf, ich hab mit dir zu reden!»
    Orecchio hielt den Atem an. Was wollte sie, verflucht nochmal? Glaubte sie wirklich, dass irgendwer freiwillig die Tür aufmachen würde, wenn er ihre kreischende Stimme hörte? Nie wieder würde er die Tür aufmachen. Nie wieder! Zu reden hatte sie mit ihm, dass er nicht lachte. Als wäre er ein kleiner Junge, der was angestellt hatte. Orecchio schnitt eine Grimasse und streckte die Zunge heraus.
    «Ernesto!»
    Leise kehrte er in die kleine Küche zurück und schloss die Tür hinter sich, dann machte er die Fensterläden zu und zog behutsam die Decke vom Karton. Der hatte sich nicht verändert,

Weitere Kostenlose Bücher