Die Stunde der Zikaden
Ehe. Weiß der Teufel.
Heute jedenfalls glaubte er an Gerechtigkeit nur noch im Kleinen, Konkreten und empfand brennenden Zorn nur noch bei Gemeinheiten, die Hilflose und Unschuldige trafen.
Er tastete nach seiner Armbanduhr, die irgendwo neben seinem Kopfkissen liegen musste. Beinahe halb zehn.
Leise stand er auf und verließ das Schlafzimmer. Draußen schien die Sonne, als wäre Sommer. Guerrini machte sich einen Milchkaffee, schlürfte ihn im Stehen, während er auf die kleine Terrasse hinter der Küche schaute. Unter den Büschen saßen zwei magere Katzen. Wenigstens das hatte sich nicht geändert.
Guerrini schloss die Küchentür auf, füllte eine Schale mit verdünnter Milch und trug sie nach draußen. Mit leisem Fauchen und zuckenden Schwanzspitzen krochen die Katzen tiefer ins Gestrüpp. Guerrini stellte die Schale auf den Boden, kehrte ins Haus zurück und schloss leise die Tür. Innerhalb von Sekunden hatten sich die Katzen über die Milch hergemacht. Guerrini lächelte vor sich hin und füllte seine Kaffeetasse ein zweites Mal. Dann ging er über die Wendeltreppe nach unten, überlegte kurz, ob er sich eine seiner CDs anhören wollte, ließ es aber bleiben und öffnete stattdessen die Terrassentür.
Es war ein guter Zeitpunkt, seinen Vater anzurufen und ihn ein bisschen über Enrico di Colalto auszufragen. Solange Laura noch schlief und bevor sie zum Essen beim Conte gingen. Guerrini wollte sich irgendwie wappnen, warum und wogegen wusste er selbst nicht genau. Nur, dass er sich als junger Mann Enrico gegenüber immer unbeholfen und unterlegen gefühlt hatte. Eben wie jemand, der nicht schwimmen kann und untergetaucht wird. Jemand, der nicht adelig ist und von einem Adeligen gedemütigt wird. Es war der blanke Klassenkampf gewesen, damals. Das wollte er nicht noch einmal erleben. Noch dazu mit Laura an seiner Seite. Diesmal würde er es ihm zeigen.
Schnellen Schritts lief Guerrini zum Strand hinunter und starrte auf die Nebelbänke über dem Wasser. Er hasste Colalto. Je länger er über ihn nachdachte, desto heftiger hasste er ihn. Welch wunderbar entspannender Urlaub! Eine Leiche am Strand, ein verheerender Sturm und Enrico di Colalto. War es das, was er gesucht hatte?
Die Sonne fraß den Nebel weg. Guerrini konnte ihr dabei zusehen, fühlte, wie sie an Kraft zunahm. Die feuchte Kühle des späten Morgens schmolz regelrecht dahin, plötzlich wurde es angenehm warm, und in den Macchiabüschen hinter ihm begannen ein paar späte Zikaden zu schnarren. Guerrini erinnerte sich, wie er als Junge versucht hatte, Zikaden zu fangen. Wochenlang hatte er immer wieder nach ihnen gesucht, sich an das schrille Schnarren angeschlichen, das aus einer bestimmten Richtung zu kommen schien. Nie hatte er die Erzeuger des Lärms gefunden. Kaum meinte er, ihnen nahe zu sein, verstummten sie, als hätte es sie nie gegeben. Nie hatte er eine Zikade zu Gesicht bekommen. Zu Hause in Siena konnte er sie ebenfalls hören. Als er schließlich in einem Buch über Insekten nachschlug, fand er sie enttäuschend hässlich. Braun, rindenähnlich, mit hornigen Auswüchsen hingen sie an Ästen, perfekt angepasst an ihre Umgebung. Kein Wunder, dass er sie stets übersehen hatte. Pflanzensauger waren sie, lebten vom Saft der Bäume wie Vampire vom Blut.
Langsam kehrte er zum Haus zurück, der weiche, kühle Sand unter seinen Füßen war angenehm. Als er den Rasen vor der Terrasse erreichte, meinte er hinter den Rosmarinbüschen nahe dem Parkplatz eine Gestalt zu sehen, eine verschwommene Bewegung, irgendwie bunt, schlaksig und schon fort. Eine Bewegung und Farben, die zu einem Schwarzen passen würden. Warum dachte er das? Weil Laura ihm von dem Straßenhändler erzählt hatte?
Vorsichtig näherte sich Guerrini der Rosmarinhecke und schaute über den Parkplatz zum Kanal hinüber. Kein Laut war zu hören. Auch die Zikaden waren verstummt. Er sprang über eine niedrige Mauer zu seinem Wagen hinunter, überprüfte Türen und Fenster. Alles schien in Ordnung zu sein. Noch einmal lauschte er und ging dann zum Haus hinauf.
Laura schlief noch immer, und so nahm Guerrini sein Telefonino, setzte sich auf die Dachterrasse und drückte die Taste, die ihn hoffentlich mit seinem Vater verbinden würde. Er hatte kein Netz. Nicht mal in diesem verdammten Reichenghetto funktionierten Handys. Den Blick auf das Display gerichtet, bewegte sich Guerrini über die Terrasse. Aber erst als er aufs Dach kletterte, ganz oben, auf dem First, hatte er
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