Die Stunde der Zikaden
Empfang. Die Aussicht war nicht schlecht – er genoss den freien Blick auf das Meer und die Bucht.
«Buon giorno, Angelo! Wie schön, dass du an deinen alten Vater denkst, obwohl du mit einer Frau unterwegs bist!»
Trotz seines hohen Alters kam Fernando Guerrini mit Handys erstaunlich gut zurecht. Er liebte Displays, auf denen man erkennen konnte, wer gerade anrief, gab ihm diese Erfindung doch endlich die Möglichkeit, frei zu entscheiden, ob er mit einer Person sprechen wollte oder nicht!
«Buon giorno, papà. Come va?»
«Bene. Mich interessiert mehr, wie es dir geht. Gefällt Laura das Haus? Deine Mutter hat es geliebt. Sie wollte für immer dortbleiben. Vermutlich deshalb, weil sie mich dann nur noch selten gesehen hätte!» Fernando Guerrini schickte kräftiges Gelächter durch das kleine Telefonino.
«Es gefällt ihr.»
«Wäre ja auch verrückt, wenn es ihr nicht gefallen würde! So ein Haus findet man nur selten. Es war ein Geniestreich vom alten Colalto. Alter Fuchs, der er war! Habt ihr den Sturm gut überstanden?»
«Haben wir.»
«Bene, bene! Dann hast du wahrscheinlich auch von dieser seltsamen Geschichte mit dem weißen Lieferwagen und dem verschwundenen Fahrer gehört, was? Ich hab’s in den Regionalnachrichten gesehen.»
«Natürlich. Die Sache ist ja in Il Bosco passiert!»
«Hab ich’s mir doch gedacht! Aber davon haben sie in den Nachrichten natürlich nichts gesagt. Wahrscheinlich waren unsere reichen Freunde dagegen. Meinst du nicht?»
«Möglich. Aber ich meine gar nichts, Vater. Ich bin nämlich im Urlaub und Laura ebenfalls.»
«Recht habt ihr! Am besten verbringt ihr den ganzen Tag im Bett, dann kann euch der Rest der Welt gestohlen bleiben.» Der alte Guerrini kicherte hinterhältig – weit weg in Siena.
«Ich werde diese Anregung weitergeben!» Guerrini richtete sich auf, denn der bunte, schlaksige Schatten, den er zuvor gesehen hatte, verschwand gerade um eine Ecke auf der übernächsten Dünenkuppe.
«Mach das nicht, Angelo, sonst hält mich die Commissaria für einen Wüstling!»
«Sie wird es noch früh genug selbst herausfinden!»
«Was hast du gesagt? Was?»
«Nichts, papà! Könntest du mir kurz zuhören? Ich möchte dich etwas fragen!»
«Was?»
«Es geht um den Sohn deines alten Freundes Colalto. Um Enrico. Er kam gestern hier vorbei und hat uns zum Essen eingeladen.»
«Ah, hat er das.»
«Ja, hat er.»
«Das wundert mich, denn er konnte dich nie besonders leiden!»
«Danke für deine klaren Worte! Ich ihn übrigens auch nicht! Aber darum geht es nicht. Mich interessiert etwas ganz anderes: Wie läuft es mit euren gemeinsamen Geschäften?»
«Beh, warum interessierst du dich plötzlich für meine Geschäfte? Ich denke, du bist im Urlaub!»
«Wenn ich von Enrico zum Essen eingeladen werde, dann möchte ich ein bisschen was über ihn wissen und vor allem über seine Beziehungen zu meiner Familie. Verstehst du das?»
Keine Antwort. Guerrini hatte wieder das Netz verloren. Er stand auf und balancierte auf dem Dachfirst. Die Verbindung kam zurück.
«Bist du noch da, Vater?»
«Natürlich!»
«Es ist nicht natürlich, weil ich hier auf dem Dach stehe, um mit dir zu reden!»
Der alte Guerrini antwortete mit einem trockenen Husten.
«Arbeitest du noch mit ihm zusammen?»
«Mit wem?»
«Mit Enrico!»
«Nicht mehr oft. Sieh mal: Ich mach doch kaum noch was. Schließlich bin ich beinahe achtzig! Die paar Madonnenreliefs, die ich noch verkaufe … es interessiert mich nicht mehr. Geld interessiert mich nicht mehr! Das müsste dir doch aufgefallen sein, Angelo! Ich habe genug verdient in meinem Leben. Es reicht! Voll und ganz!»
Guerrini bewegte sich langsam auf dem Dach und folgte dem schwachen Signal. Theater, dachte Guerrini, er spielt Theater, weil er etwas verbergen will. Ich kenne meinen Vater!
«Bene! Ich versteh das, papà. Aber das beantwortet nicht meine Frage. Arbeitest du mit Enrico oder nicht?»
Wieder war die Verbindung weg, kam aber schnell zurück.
«Die letzte Lieferung ging vor drei Wochen raus. Aber davor hatten wir eine Pause von ungefähr fünf Monaten.»
«Was war das für eine Lieferung?»
«Madonnen natürlich, lauter Madonnen!»
«Wie viele?»
«Ist das ein Verhör? Ich bin dein Vater, verdammt nochmal!»
«Es ist kein Verhör! Aber du sagst ja nichts! Madonnen, sagst du! Aber nicht, wie viele, ob groß oder klein oder für wen sie bestimmt waren. Ich muss mir das vorstellen können!»
«Du hast Dienstgeheimnisse, ich
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