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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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Stiefel.
    «Wir haben da ein paar Fragen wegen vorletzter Nacht. Die Sache mit dem Lieferwagen, du weißt schon!»
    «Ah, die Sache mit dem Lieferwagen», wiederholte Orecchio leise. «Eine schlimme Sache.»
    «Ja, schlimm. Könnte aber noch schlimmer werden, so wie es aussieht! Wir müssten deine Aussage zu Protokoll nehmen, Orecchio. Deshalb sind wir so früh gekommen. Wir wollten dich noch vor deinem Dienst erwischen. Es dauert nicht lange.»
    «Aber ich komm zu spät!» Orecchio konnte das Entsetzen in seiner Stimme kaum verbergen, und Fiumetto warf ihm einen erstaunten Blick zu.
    «Ich glaube nicht», antwortete er und sah auf seine Armbanduhr. «Es ist jetzt halb sechs. Dein Dienst beginnt um sieben. Bis dahin sind wir längst fertig. Also setz dich in deinen Wagen und fahr hinter uns her zum Revier.»
    «Kann ich …», plötzlich versagte Orecchios Stimme, und er musste sich heftig räuspern, «… kann ich nicht nach meinem Dienst kommen? So eilig ist die Sache doch nicht, oder?»
    «Doch, die Sache ist eilig. Oder hast du noch nicht gehört, dass der Fahrer des Lieferwagens aus dem Krankenhaus verschwunden ist? Außerdem hatte der Wagen geklaute Nummernschilder. Deshalb hoffen wir, dass du uns ein bisschen weiterhelfen kannst.»
    «Madonna!» Mehr brachte Orecchio erst nicht heraus, doch dann bäumte er sich gegen das drohende Verhängnis auf. «Ich habe keine Ahnung, was das für ein Wagen ist und wohin der wollte. Der Baum fiel, und der Lieferwagen war drunter. Mehr weiß ich nicht, und dann hab ich die Feuerwehr gerufen.»
    «Langsam, Orecchio. Erzähl uns das gleich!» Die Polizisten drehten sich um und kehrten zu ihrem Wagen zurück. Orecchio aber kroch mit weichen Knien in seinen Fiat und wusste in diesem Augenblick nur eines: dass er seinen Karton nicht zurückbringen konnte, ehe er seinen Dienst antreten musste.
     
    Nach dem langen Abend in der Pizzeria erwachte Commissario Guerrini erst spät. Im Schlafzimmer herrschte ein angenehm grünliches Dämmerlicht, das ihn an den Amazonas und sein Gespräch mit Laura erinnerte. Er fragte sich, ob er diese Reise in die Vergangenheit nicht doch absichtlich gewählt hatte. Halb bewusst, wie so manches in seinem Leben, und doch sehr zielgerichtet.
    Die Vergangenheit war vor zwei Jahren plötzlich wiederauferstanden, als in Siena ein ehemaliger Kommandant der Roten Brigaden die Banca Monte dei Paschi di Siena überfallen und hundertsiebzigtausend Euro erbeutet hatte. Beim Freigang wegen guter Führung. Sie hatten ihn schnell erwischt, seine Pistole versagte, und er überschüttete die Polizisten mit Hass und Verzweiflung. In all den Jahrzehnten im Gefängnis hatte er seinen Traum von der Revolution nie aufgegeben. Diese spezielle Bank war für ihn der Ursprung des Bösen, des Kapitalismus, eine der ersten Banken überhaupt. Von dort, aus dem Herzen der Toskana, hatte für ihn das Verhängnis der Ausbeutung seinen Lauf genommen. Der Raub war ein Symbol der Befreiung. Das Geld war für einen Neubeginn des revolutionären Kampfes bestimmt, für die Zeit nach dem Gefängnis, von der ihn nur noch ein paar Monate trennten. Jetzt saß er wieder. Vermutlich bis ans Ende seiner Tage.
    Guerrini hörte Lauras leisen Atem neben sich. Sie lag auf dem Bauch, hatte den Kopf in die Kissen vergraben. Es war gut, sie neben sich zu spüren, gemeinsam mit ihr diese Erkundungsreise in die Vergangenheit zu unternehmen. Sie kannten sich nicht besonders gut, hatten stets nur Bruchstücke des anderen entdecken können und vermutlich eine Menge Theater gespielt. Gute Rollen, zugegeben. Guerrini fragte sich, ob es möglich war, Menschen jemals wirklich kennenzulernen. Wenn er ehrlich war, dann kannte er nicht einmal sich selbst und seine eigenen verborgenen Seiten besonders gut.
    So hatte es ihn bei der Festnahme des alten Comandante der Roten Brigaden erstaunt, dass er den grauhaarigen Berserker, der gerade mal zehn Jahre älter als er selbst war, plötzlich um seine Wut beneidete. Genau diese brennende Wut, dieser Glaube an Gerechtigkeit, an Fortschritt, hatte auch ihn einmal erfüllt. Während seiner Studienzeit und in den ersten Jahren als Polizist. Dann hatte er allmählich die Zähigkeit menschlicher Schwächen begriffen, an der die meisten Ideologien krankten. Zum Beispiel die schlichte Tatsache, dass Menschen schon immer Menschen ausgebeutet haben, ganz egal, welches System man betrachtete. Vielleicht lag es auch an der verdammten Polizeiarbeit. Am Leben. An seiner verkorksten

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