Die Stunde der Zikaden
habe Geschäftsgeheimnisse!»
«Bitte, Vater!»
«Wieso sind meine Geschäfte plötzlich so wichtig, eh?»
«Weil ich Colalto nicht traue.»
«Weil du ihn nicht leiden kannst! Ich mache seit Jahren Geschäfte mit den Colaltos!»
«Aber erst seit kurzem mit Enrico.»
«Es läuft ganz genauso wie mit seinem Vater. Nichts hat sich geändert, Angelo! Nur, dass es noch ein bisschen schneller und besser funktioniert.»
«Schön für dich. Aber könntest du mir trotzdem sagen, wie viele Madonnenreliefs du an Colalto geliefert hast?»
«Knapp zweitausend. Wir haben gemeinsam einen Container für unsere Keramiken.»
«Zweitausend?!»
«Ja, natürlich! Meinst du, ich verkaufe die Dinger stückweise nach Amerika? Das ist ein riesiges Land!»
«Aber vor ein paar Minuten hast du großartig erklärt, dass dich Geld nicht mehr interessiert! Bei zweitausend Reliefs bleiben mindestens vierzigtausend oder fünfzigtausend Euro bei dir hängen!»
Wieder war die Verbindung unterbrochen. Leise fluchend drehte Guerrini sich um sich selbst. Da war Fernando wieder und fluchte ebenfalls.
«Hatte ich recht mit meiner Schätzung?» Allmählich verlor Guerrini die Geduld.
«Das geht dich gar nichts an!»
«Bene, dann liege ich wahrscheinlich richtig! Wie hoch ist Colaltos Anteil?»
«Weniger, viel weniger! Wir verdienen alle weniger! Da sind die Transportkosten, der Zoll! Amerika ist weit weg!»
«Ein Container voll Keramik kostet nicht die Welt, papà! Von wo verschifft ihr das Zeug eigentlich?»
«Es ist kein Zeug! Das sind Kopien von della Robbia! Er war einer der größten Künstler der Toskana!»
«Jaja.»
«Sag nicht jaja!»
«Also: welcher Hafen? Genua?»
«Wenn du es genau wissen willst: Colalto hat schon immer über Neapel ausgeführt, und es hat immer funktioniert!»
«Neapel!», wiederholte Guerrini und setzte sich auf einen niedrigen Schornstein. Plötzlich wünschte er sich, er hätte nie gefragt und wäre nie in dieses Haus zurückgekehrt.
«Bist du noch da, Angelo?»
«Sì.»
«Hat dir wohl die Sprache verschlagen, was?»
«Sì.»
«Es ist alles ganz harmlos, legal, nichts dahinter! Hör auf, dich als Commissario aufzuführen. Die guardia di finanza hat meinen Laden schon zweimal überprüft und nichts Anstößiges gefunden! Kapiert?»
«Bene. Könntest du mir einen Gefallen tun, papà? Falls sich Enrico bei dir meldet, dann sag ihm nicht, dass Laura bei der Polizei ist. Ich habe sie als Meeresbiologin vorgestellt, und das sollte sie auch bleiben.»
«Wieso denn das?»
«Einfach so!»
«Meeresbiologin! So ein Blödsinn!»
«Colalto hat’s geschluckt, und Laura findet ihren neuen Beruf gar nicht so schlecht.»
«Na gut. Vergiss meine Geschäfte, ja? Hast dich früher auch nicht dafür interessiert und nicht schlecht davon gelebt. Wieso also jetzt?»
«Ja, wieso jetzt.»
«Bene, Angelo! Belle vacanze und grüße Laura, die Meeresbiologin, von mir. Das muss ich ihrem Vater erzählen!» Das Kichern des alten Guerrini verklang, als diesmal er das Gespräch beendete.
Angelo Guerrini steckte das Telefon in die Brusttasche seines Polohemds, stützte den Kopf in beide Hände und schaute aufs Meer hinaus. Ein einzelner Fischkutter zerschnitt die trägen Wellen und bewegte sich langsam auf den Hafen von Portotrusco zu.
Zweitausend Madonnenreliefs werden regelmäßig von Enrico di Colalto über Neapel in die USA verschifft, dachte Guerrini. Mein Vater organisiert die Madonnen, den Rest macht Colalto. Und zuvor hat es Colaltos Vater gemacht. Das klingt nicht gut! Wenn ich genauer darüber nachdenke, dann klingt es geradezu katastrophal. Vielleicht sollte ich nicht darüber nachdenken. Mein Vater betreibt seine Geschäfte immerhin schon seit Jahrzehnten. Ich werde also nicht darüber nachdenken, nicht über Neapel, nicht über die Camorra, auch nicht über die Rolle Enricos. Dies ist eine Zeit der Verdrängung. Vielleicht kann man überhaupt nur dann Urlaub machen, wenn man gut im Verdrängen ist. Aber ich war noch nie gut darin, jedenfalls nicht für längere Zeit.
Über den Büschen zwischen Haus und Strand tauchte für Zehntelsekunden ein dunkler Kopf auf, und Guerrini fragte sich, wie lange es ihm gelingen würde, keine Zusammenhänge zwischen den seltsamen Ereignissen dieser ersten Urlaubstage zu suchen.
Seit zwei Stunden saß Ernesto Orecchio wieder auf seinem Wachtposten und dachte darüber nach, wie er den verdammten Karton loswerden könnte. Auf dem Revier war es nicht so schlimm gewesen. Er
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