Die Stunde der Zikaden
letzten Jahrhundert geboren, und die sind noch ziemlich jung.»
«Es ist wirklich historisch. Weil diese bestimmte politische Konstellation vorbei ist. Aber zu unserem Spiel: Wir haben uns gegenseitig in alle möglichen unangenehmen Räume eingesperrt, und dann mussten wir uns selbst befreien. So haben wir Entführungen nachgespielt. Ein paar waren die Entführer, einer oder zwei die Entführten. Wenn ich heute darüber nachdenke, dann waren es Übungen gegen unsere Angst. Wir versuchten die Kontrolle über eine unklare Situation zu gewinnen. Die Gewissheit, dass wir uns aus einem verschlossenen Raum befreien konnten, machte uns Mut.»
Laura hielt Guerrini ihr leeres Weinglas hin, er lächelte abwesend und schenkte nach.
«Wie habt ihr euch befreit?»
«Meistens blieb der Schlüssel außen stecken. Du musst wissen: Es waren keine modernen Schlösser, sondern alte mit großen Schlüssellöchern und großen Schlüsseln. Auch die Türen waren alt. Wir entwickelten ein großes Geschick darin, ein Papier unter der Tür durchzuschieben und den Schlüssel aus dem Schloss zu stoßen. Dann fiel er auf das Papier, und wir konnten ihn in unser Gefängnis ziehen. Das funktionierte natürlich nicht immer. Manchmal war unter der Tür nicht genügend Raum, manchmal fiel der Schlüssel neben das Papier. Aber wir haben unermüdlich geübt. Es war eine Art Besessenheit.»
«Was habt ihr gemacht, wenn der Schlüsseltrick nicht funktionierte?»
Guerrini lachte trocken auf. «Dann hatten wir wirklich Angst. Manchmal gab es ein Fenster, aus dem wir entkommen konnten, aber meistens mussten wir auf die Gnade unserer Entführer warten. Oder darauf, dass unsere Eltern uns entdeckten.»
«Scaloppine a limone con insalata mista!»
Laura und Guerrini schreckten hoch.
«Scusate, Signori! Redet nicht so viel, sondern esst!»
«Er hat recht», murmelte Guerrini. «Zu viele Worte können den Appetit verderben.»
Endlich hatte Ernesto Orecchio es unter die Dusche geschafft. Es kam ihm vor, als spülte das warme Wasser auch einen Teil seiner Ängste fort. Aber bereits beim Abtrocknen waren sie zurück und rumorten mit den schlecht gekauten Salamistücken in seinem Magen. Er versuchte sie zu ignorieren, sich normal zu verhalten, zog frische Unterwäsche an, frische Socken, eine frische Hose und ein frisches Sweatshirt. Die verschwitzten Kleidungsstücke stopfte er in einen großen Beutel. Den würde er morgen seiner Mutter vor die Tür legen. Sie kümmerte sich um seine Wäsche. Das war bequem und gleichzeitig unangenehm. Er vermied es, länger darüber nachzudenken, bereitete sich einen Kaffee und trug die Tasse in das winzige Wohnzimmer hinüber. Auch dort hatte er die Fensterläden geschlossen. Weil er noch immer hungrig war, holte er sich ein Stück Käse und etwas Brot und schaltete endlich den regionalen Fernsehsender ein.
Werbung. Orecchio schaute auf die Uhr. Beinahe elf. Er konnte auf die Nachrichten warten. Noch zwei Minuten. Nervös lief Orecchio auf und ab.
Endlich fing das giornale della regione an.
Natürlich drehte sich alles um den Sturm. Sie zeigten umgestürzte Baugerüste, den abgebrochenen Arm eines Krans in Montemassi, einen Laster, der gegen einen umgestürzten Baum gefahren war und nächtliche Sturzfluten in Grosseto. Und endlich, als Orecchio die Hoffnung schon aufgegeben hatte, erschien der weiße Lieferwagen auf dem Bildschirm. Nur ein Foto, aber immerhin. Der Moderator redete irgendwas von einer seltsamen Geschichte, und Orecchio unterbrach seine nervöse Wanderung. Schnitt. Jetzt sah man das Krankenhaus von Grosseto, davor zwei Einsatzwagen der Carabinieri. Dann erschien eine langhaarige Reporterin, die vom mysteriösen Verschwinden des verletzten Fahrers eben jenes weißen Lieferwagens berichtete. Sie interviewte einen Arzt, der sich die Sache nicht erklären konnte und von erheblichen Verletzungen des Fahrers sprach. Dann redete ein Carabiniere von Ermittlungen und der Möglichkeit eines Verbrechens. Schnitt. Jetzt ging es plötzlich um den Rückgang der Touristenzahlen in der vergangenen Saison.
Orecchio schaltete auf einen anderen lokalen Kanal um, doch da lief eine der Rateshows, die seine Mutter den ganzen Tag und die halbe Nacht lang sah. Langsam ließ Orecchio sich auf den einzigen Sessel sinken und versuchte seine Gedanken zu ordnen.
Der Fahrer war weg. Wieso war der weg? War doch völlig schwachsinnig. Jetzt hatte der auch noch die Polizei aufgeschreckt. Jetzt suchten sie ihn und den Fahrer.
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