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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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Nicht nur seine unbekannten Geldgeber, sondern auch noch die Polizei. Oder hatten die unbekannten Geldgeber den Fahrer aus dem Krankenhaus geholt? Auch dieser Gedanke gefiel Orecchio nicht. Die ganze Sache war verdammt undurchschaubar. Er war im Moment meilenweit von einem rettenden Plan entfernt und konnte nur hoffen, dass sie ihn weiterhin für absolut verlässlich hielten. Für jemanden, dem man auch einen mit weißem Pulver gefüllten antiken Stierkopf anvertrauen konnte. Aber er war sich nicht sicher. Orecchio brachte die Kaffeetasse in die Küche, packte den Stierkopf ein und schob den Karton wieder unter das Bett. Dann löschte er das Licht und legte sich angezogen hin. Nachdenken konnte er auch im Dunkeln. Tun konnte er sowieso nichts. Mitten in der Nacht die Wohnung zu verlassen und in den Wald zurückzufahren, wäre Wahnsinn. Nein, er musste warten, bis sich irgendwas bewegte. Bis sie sich meldeten. Orecchio verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte auf den kleinen hellen Fleck an der Decke. Einer der Fensterläden ließ diesen Lichtstrahl durch, der von der Straßenlaterne vor dem Haus stammte. So etwas zu denken beruhigte, weil es eine klare Sache war.
    Vielleicht wäre es am klügsten, morgen früh einfach wegzufahren. Den Stierkopf und das andere Zeug auf den Küchentisch zu legen, sein Erspartes abzuheben und zu verschwinden. Damit hätte er auch das Problem mit seiner Mutter gelöst. Den Rest der Lieferung würden die nie finden, und für ihn selbst könnte das eine Art Altersversicherung sein. Ab und zu würde er zurückkommen, eines der Pakete mitnehmen und zu Geld machen.
    Vielleicht sollte er den Stierkopf doch mitnehmen. Dann wäre er mit einem Schlag reich. Andererseits hatte er nicht die geringste Ahnung, wo er das weiße Zeug verkaufen könnte. Nein, das war keine gute Idee. Er hatte keine einzige gute Idee.
    Andererseits hatte er ja nur gemacht, was der Fahrer gesagt hatte: die Ladung in Sicherheit gebracht! Davon, dass er in das Paket geschaut hatte, wussten die ja nichts. Wenn er es wieder ordentlich zuklebte und in den Wald zurückbrachte, dann hatten sie keinen Grund, ihm zu misstrauen. Vielleicht bekäme er sogar eine Extrazahlung. Entscheidungen zu treffen war nie Orecchios Stärke gewesen. Doch diesmal traf er eine: Am Morgen begann wieder sein Tagdienst. Er würde besonders früh aufstehen, den Karton zu den anderen legen und dann arbeiten wie gewöhnlich. Orecchio drehte sich auf die Seite und stellte seinen Wecker auf halb fünf.

 
    KURZ VOR HALB SECHS verließ Orecchio das Haus. Zuvor hatte er den Karton sorgfältig mit breitem Klebeband verschlossen und wieder in die alte Decke gewickelt. Den Plastiksack mit schmutziger Wäsche stellte er vor der Wohnungstür seiner Mutter ab. Dann verließ er das Haus.
    Im Osten wurde es bereits heller, der Himmel schien klar zu sein. Es war so kalt, dass Orecchios Atem sich in Nebel verwandelte. Nachdem er sich sorgfältig umgeschaut hatte, öffnete er den Kofferraum seines Fiat, legte das Paket hinein und klappte ihn wieder zu. Das war geschafft.
    Als er die Fahrertür aufschloss, hörte er plötzlich den Motor eines näher kommenden Wagens. Starr blieb er stehen, als könnte er sich auf diese Weise unsichtbar machen.
    Der Wagen hielt genau gegenüber dem kleinen Parkplatz vor dem Haus. Orecchio rührte sich nicht, aber in seinem Außenspiegel konnte er sehen, dass es ein Wagen der Carabinieri war. Damit hätte er rechnen müssen. Hatte er aber nicht. Er hörte ihre Stiefel auf dem Asphalt und dachte, dass er sich jetzt umdrehen musste, sonst würde es verdächtig aussehen. Also drehte er sich um.
    Es waren zwei, natürlich. Sie kamen nie allein. Den einen kannte Orecchio. Mit dem hatte er ab und zu in der Bar am Marktplatz einen Kaffee getrunken. Der war in Ordnung, beinahe ein Bekannter. Den anderen hatte er noch nie gesehen. Sah ziemlich jung aus.
    «Buon giorno, Orecchio!»
    «Buon giorno, Tenente Fiumetto.»
    «Verdammt kalter Morgen, was?»
    Orecchio nickte.
    «Fährst gleich zur Arbeit, wie?» Der Carabiniere schob seine Mütze ein wenig nach hinten.
    «Ja, ich bin wieder in der Tagschicht.» Orecchio versuchte ganz locker zu erscheinen, völlig normal. Eben wie jemand, der ganz normal seinen Tag beginnt. Eigentlich machte er das ja auch, eigentlich!
    «Gut, dass wir dich noch erwischen, dann können wir uns die Fahrt raus nach Il Bosco sparen.»
    Jetzt standen sie genau vor Orecchio. Er starrte auf ihre glänzenden, schwarzen

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