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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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Orecchio schätzte sie auf vierzig. Er mochte den aufmerksamen Blick nicht, mit dem sie ihn musterte. Deshalb ging er zum Fahrer hinüber, der inzwischen das Fenster heruntergelassen hatte.
    «Was gibt’s?», fragte der Fahrer und sah Orecchio genau in die Augen, als der sich zu ihm hinabbeugte.
    «Gar nichts», stammelte Orecchio. «Es ist nur Anweisung von oben, dass wir alle kontrollieren müssen.»
    «Colalto!», sagte der Fahrer. «Wir wohnen in der Casa Colalto.»
    «Ah!», nickte Orecchio. Das also war der Dottore mit seiner Freundin.
    «Sie sind Orecchio, nicht wahr?»
    Wieso fragte der Dottore? Woher kannte er seinen Namen? Und wieso war er so höflich? Siezte ihn. Niemand siezte die Wärter!
    «Ja», murmelte Orecchio. «Ja, ich bin Orecchio.»
    «Ich habe gehört, dass Sie in der Nacht des großen Sturms Dienst hatten. War nicht besonders angenehm, was?»
    «Nein.»
    «Und dann die Sache mit dem weißen Lieferwagen. Gestern Abend hat uns die Polizei danach gefragt. Aber wir hatten keine Ahnung.»
    Orecchio trat vom Lancia zurück und schaute auf den Boden.
    «Nein.»
    «Was, nein?»
    «Ich habe auch keine Ahnung, was das für ein Wagen ist. Warum er überhaupt hier reingefahren ist. Ich meine, ich habe erst gemerkt, dass er überhaupt da war, als ich die Scheinwerfer unter dem Baum gesehen habe. Der hat sowieso verdammtes Glück gehabt, dass ich rausgeschaut habe, bei diesem Sauwetter!»
    Der Fahrer des Lancia betrachtete Orecchio mit einem ähnlich aufmerksamen Blick, wie zuvor seine Beifahrerin. Plötzlich schaltete Orecchio. Er wartete auf die nächste Frage: die nach der Lieferung, nach dem Karton.
    Aber sie kam nicht.
    Der Dottore mit den hellen Augen und dunklen Haaren lächelte ihm zu, nickte, hob die Hand zum Gruß und fuhr davon.
    Die wollen mich fertigmachen, dachte Orecchio. Er hatte es oft genug im Fernsehen gesehen, wie sie ihre Leute fertigmachten, die vom organisierten Verbrechen oder die aus der Politik. Ganz freundlich waren sie, nur ihre Augen waren kalt. Sie ließen ihre Opfer langsam verrückt werden vor Angst, und dann schlugen sie plötzlich zu. Peng! Genau das hatte der Dottore gerade mit ihm gemacht. Orecchio war ganz sicher, dass er zu den Anderen gehörte.
    Er musste weg! Sie trauten ihm nicht! Das war jetzt klar! Aber wohin, wohin? Sie fanden die Verräter überall. Ganz egal, wohin die sich flüchteten. Eine Chance hatte er noch! Den Karton! Wenn es so stand, dann musste er abhauen. Mit dem Karton und dem weißen Pulver. Das war seine einzige Chance! Nicht nur die Anderen konnten so was! Ihn speisten sie mit fünfhundert Euro pro Lieferung ab, und selbst steckten sie Hunderttausende ein, wahrscheinlich Millionen!
    Entschlossen wandte Orecchio sich um und stolperte über die Schwelle des Wärterhäuschens. Noch ein Schluck Wasser, dann los. Er würde einfach alles liegen lassen. Nur das Gewehr wollte er mitnehmen. Den Fiat hatte er am Morgen vollgetankt. Geld konnte er überall abheben. Immerhin hatte er fast dreitausend auf seinem Konto. Vielleicht war es gut so. Vielleicht hatte das Schicksal ihm diesen Weg vorbestimmt. Orecchio glaubte an das Schicksal.
    Sorgsam spülte er das Glas aus und stellte es ins Regal zurück, dann nahm er das Gewehr, eine Schachtel Munition und seine Regenjacke, die an dem Haken an der Tür hing. Er fühlte sich plötzlich ganz ruhig. Es war gut, Entscheidungen zu treffen. Noch einmal schaute er sich um, fühlte leichtes Bedauern, denn er hatte diese Arbeit gemocht, hatte geglaubt, dass sie doch noch zu etwas führen würde. Mit dem Extraeinkommen. Das war jetzt vorbei. Wieder ein Erdbeben. Er war daran gewöhnt.
    Der rote Fiat stand noch immer so da, wie er ihn zuletzt gesehen hatte. Aber als Orecchio die Zentralverriegelung öffnen wollte, stellte er fest, dass der Wagen bereits offen war. Rauschen in seinen Ohren, Pochen in den Schläfen. Es konnte nicht sein! Er hatte den Wagen abgeschlossen, als er das letzte Mal nachgesehen hatte, ob alles in Ordnung war. Oder hatte dieser Dottore ihn abgelenkt? Das Rauschen in seinen Ohren nahm zu.
    Es konnte nicht sein! Er hatte die Türen gar nicht geöffnet, sondern nur durch die Heckscheibe auf den Karton in der Decke geschaut. Im Zeitlupentempo näherte Orecchio sich der Heckklappe des Fiat und machte sie auf. Die Decke war noch da. Zerknautscht lag sie in der rechten Ecke der kleinen Ladefläche. Der Karton war nicht mehr da. Auch diese Erkenntnis drang nur im Zeitlupentempo in Orecchios

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